Nach dem Wahlbeben von Sachsen und Thüringen: Wie geht es jetzt weiter?

Das seit dem frühen Morgen vorliegende vorläufige amtliche Endergebnis der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen bestätigt, was sich in den Hochrechnungen während der Wahlnacht abzeichnete: Zum ersten Mal ist die AfD in Thüringen stärkste politische Kraft in einem Bundesland geworden – und das mit großem Abstand vor der CDU. In Sachsen landet die AfD nur knapp hinter der CDU auf Platz 2. In beiden Bundesländern könnten sich Regierungsbündnisse aus CDU, BSW und SPD abzeichnen. Wie geht es nach diesem Wahlbeben weiter? Polit-Insider Einar Koch fasst Ergebnisse und Reaktionen zusammen, analysiert Zahlen und klärt wichtige Fragen.

VON EINAR KOCH*

Blicken wir zuerst nach Thüringen. Nach dem vorläufigen Endergebnis sind im Freistaat verschiedene Konstellationen denkbar. Allerdings müsste die CDU an ihren Unvereinbarkeitsbeschlüssen rütteln. Dies nicht nur,  um eine theoretisch mögliche Regierungsmehrheit erreichen zu können, sondern auch, um mit einer nach dem Stand der Dinge wohl eher wahrscheinlichen Minderheitsregierung regieren zu können. Denn: Mehrheiten im Landtag jenseits von AfD und Linke sind wiederum nicht möglich. Auf jeden Fall wird es nach Bekanntgabe des vorläufigen Endergebnisses kompliziert in Thüringen. 

Die AfD kommt auf 32,8 Prozent. Die CDU steigert ihr Wahlergebnis von 2019 zwar leicht, bleibt mit 23,6 Prozent aber deutlich hinter der AfD. Das BSW wird mit 15,8 Prozent aus dem Stand drittstärkste Kraft. Die Linke von Ministerpräsident Bodo Ramelow kommt auf 13,1 Prozent und ist damit im Vergleich zu 2019 mehr als halbiert. Mit 6,1 Prozent schafft die SPD nur knapp den Wiedereinzug in den Landtag. FDP und „Grüne“ fliegen raus.

Das politisch bedeutsamste Ergebnis der Wahl: Die AfD hat im Thüringer Landtag mit mehr als einem Drittel der Sitze eine Sperrminorität, die ihr einen weitreichenden politischen Einfluss ermöglicht.  Spitzenkandidat Björn Höcke spricht bereits von einer „Gestaltungsminorität“. So kann die AfD nicht nur die Wahl von Verfassungsrichtern oder Verfassungsänderungen blockieren –sie kann auch eine Selbstauflösung des Landtages mit dem Ziel von Neuwahlen verhindern.  

Regierungsbildung ohne AfD schwierig

Der Thüringer Landtag hat, ohne Überhang- und Ausgleichsmandate, 88 Sitze. Die Mehrheit liegt also bei 45 Sitzen. Dem vorläufigen Endergebnis zufolge kommt die AfD auf 32 Sitze. Die zweitplatzierte CDU erreicht 23 Sitze, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) kommt auf 15 Sitze, die Linke auf 12 und die SPD auf sechs. Wie könnte eine neue Landesregierung überhaupt zustande kommen?

Eine sogenannte „Brombeerkoalition“ aus CDU, BSW und SPD käme auf 44 Sitze. Das würde aber nicht reichen. Es sei denn, die Linke würde ein solches Bündnis tolerieren. Mario Voigt wäre dann der erste CDU-Ministerpräsident von Gnaden der SED-Nachfolger!

Eine rechnerische Mehrheit hätte zwar eine Koalition aus CDU, BSW und Linken. Dagegen spricht aber der (bislang noch) gültige Beschluss der CDU, der Koalitionen mit der Linken ausschließt. Dass dieser Beschluss Bestand habe, betonte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann noch am Wahlabend im ZDF.

Björn Höcke will mitregieren

Thüringens AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke meldete den Anspruch seiner Partei auf eine Regierungsbeteiligung an. Wer stabile Verhältnisse in Thüringen wolle, müsse die AfD integrieren sagte er. Seine Partei sei bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Wie eine Regierung unter Beteiligung der AfD aussehen könnte, ist aber völlig offen. Denn alle anderen Parteien, die künftig im Thüringer Landtag vertreten sein werden, haben eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen – bisher!

SACHSEN

Schauen wir nun nach Sachsen. In einem Kopf-an-Kopf-Rennen ist die CDU um Ministerpräsident Michael Kretschmer bei der Landtagswahl in Sachsen trotz Stimmeneinbußen knapp stärkste Kraft vor der AfD geworden. Die Christdemokraten stehen nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis bei 31,9 Prozent, die AfD liegt knapp dahinter bei 30,6 Prozent.

Das BSW erreicht aus dem Stand 11,8 Prozent, die SPD kommt auf 7,3 Prozent. Die Linke erreicht zwar nur 4,5 Prozent, sie erringt aber zwei Direktmandate in Leipzig und ist aufgrund der im sächsischen Wahlrecht geltenden Grundmandatsklausel trotzdem im Landtag mit neun Sitzen vertreten. Die „Grünen“ schaffen es mit 5,1 Prozent denkbar knapp ins Parlament. Die Freien Wähler (2,3 Prozent) sind mit einem Abgeordneten im Parlament vertreten, der ein Direktmandat errang. Die pulverisierte FDP verpasst den Einzug – wie schon bei den vergangenen zwei Landtagswahlen.

Klar ist: Die bisherige sogenannte „Kenia-Koalition“ aus CDU, SPD und „Grünen“ ist abgewählt und hat keine Mehrheit mehr. Sachsen steht ebenfalls vor einer schwierigen Regierungsbildung. Auch wenn sich Ministerpräsident Michael Kretschmer mit Koalitionsaussagen taktisch noch zurückhält, scheint es in Dresden auf Koalitionsgespräche der CDU mit dem BSW und der SPD hinauszulaufen. Dafür müsste Kretschmer wohl auch die Kröte schlucken, dass Sahra Wagenknecht mit am Verhandlungstisch sitzt.

AfD-Bundesspitze pocht auf Regierungsbeteiligung

Die AfD-Bundessprecher Alice Weidel und Tino Chrupalla beanspruchen nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen eine Regierungsbeteiligung in beiden Ländern. „Natürlich haben wir Regierungsanspruch“, bekräftigte Weidel im ZDF-Morgenmagazin. Die Wähler hätten sich in beiden Bundesländern klar für eine Mitte-Rechts-Koalition und eine Beteiligung der AfD entschieden. Sie glaube nicht, dass sich die sogenannte „Brandmauer“ auf Seite der CDU aufrechterhalten lasse: „Wir wollen mal sehen, wie sich die CDU auf Dauer verhalten wird“, so Alice Weidel weiter.

AfD-Chef Chrupalla reichte der sächsischen CDU von Ministerpräsident Michael Kretschmer die ausgestreckte Hand: „Mit wem will er denn seine Wahlversprechen umsetzen? Das würde mit uns eher klappen als, denke ich mal, als zum Beispiel mit der SPD oder mit den Grünen“, sagte Chrupalla im Deutschlandfunk.

Die AfD ist nicht nur Volkspartei – sie ist auch die neue Arbeiterpartei!

Die ARD-Wahlforscher von „Infratest Dimap“ haben erste Analysen zu den Ostwahlen vorgelegt: Unter AfD-Wählern gibt es demnach ein deutliches Gefälle zwischen Männern und Frauen. 37 Prozent der Männer in Sachsen und 35 Prozent der Männer in Thüringen entschieden sich für die Partei. Frauen hingegen wählten nur zu jeweils 26 Prozent die AfD.

Auch unter jüngeren Wählern ist die AfD immer beliebter. So wählten zum Beispiel 30 Prozent der 18 bis 24-Jährigen in Sachsen die AfD. 49 Prozent der Arbeiter in Thüringen entschieden sich für die AfD. In Sachsen waren es 45 Prozent.

Die AfD ist auch Kompetenz-Partei!

Laut „Infratest Dimap“ wird die AfD wird im Osten Deutschlands zunehmend als eine ganz normale Partei wahrgenommen. Gewählt wird sie immer weniger aus Protest und immer mehr aus Überzeugung – vor allem in Thüringen. Das zeigt sich besonders deutlich bei den sogenannten Kompetenzzuschreibungen – also der Frage, welcher Partei die Menschen am ehesten zutrauen, bestimmte politische Aufgaben zu lösen. 

In Sachsen und Thüringen liegt die AfD nun erstmals gleich bei mehreren Themenfeldern auf Platz 1: zum Beispiel in der Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie bei der Vertretung ostdeutscher Interessen vor allem in der Sozialpolitik. In Thüringen zieht die AfD inzwischen sogar bei der sogenannten „Meta-Frage“ (Welche Partei kann die wichtigsten Probleme im Land am besten lösen) gleichauf mit der CDU.

Chaos-Ampel röchelt dem Ende entgegen

WIE LANGE NOCH? Das ist nach dem Wahlbeben von Sachsen und Thüringen die „Mutter aller Fragen“ im Berliner Regierungsviertel. FDP-Vize Wolfgang Kubicki fordert bereits das Ende der Chaos-Ampel: „Das Wahlergebnis zeigt: Die Ampel hat ihre Legitimation verloren. Wenn ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft ihr in dieser Art und Weise die Zustimmung verweigert, muss das Folgen haben.“ Kubicki betonte weiter: „Die Menschen haben den Eindruck, diese Koalition schadet dem Land. Und sie schadet definitiv der Freien Demokratischen Partei.“

Die um die Pfründe ihrer Ökosozialisten bangende „Grünen“-Chefin Ricarda Lang sprach mit Tränen in den Augen von einer „historischen Zäsur“. Denn eins ist klar: Kann die „Grünen“-Spitze nicht mehr Ministerposten, Dienstwagen und Fördermillionen für linksgrüne NGO-Projekte garantieren, ist auch das Führungs-Duo der „Grünen“ ganz schnell weg vom Fenster!

Scholz: „Es hat sich gelohnt“

Hinter den SPD-Kulissen wird Bundeskanzler Olaf Scholz bereits in Frage gestellt. Sollte die SPD bei den Landtagswahlen am 22. September in Brandenburg nicht mehr den Ministerpräsidenten (Dietmar Woidke) stellen, dürfte die Kanzler-Debatte bei den Genossen offen ausbrechen.  

Olaf Scholz sagte in einer ersten Reaktion „Die Wahlergebnisse von Sonntag sind bitter – auch für uns. Dennoch: Die SPD hat zusammengehalten.“ Er lobte den Wahlkampf seiner Partei. „Das hat sich gelohnt, denn die düsteren Prognosen in Bezug auf die SPD sind nicht eingetreten.“ 

So weit ist es unter Scholz, Esken und Klingbeil gekommen: Für die große deutsche Traditionspartei SPD, der Partei einst von Willy Brandt und Helmut Schmidt, „lohnt“ es sich heute, nicht aus Landtagen geflogen zu sein!

 

*Einar Koch, Jahrgang 1951, war von 1992 bis 2003 Leiter der Parlamentsredaktion der „Bild“-Zeitung in Bonn und Berlin, Politik-Chef des Blattes und zuletzt Politischer Chefkorrespondent.

Neueste Beiträge

Beliebteste Beiträge

Ähnliche Beiträge