Eine Art »Reise nach Jerusalem« rund um die Skandalpolitikerin von der Leyen ist wohl ein Ablenkungsmanöver. Eitelkeiten der umstritten ins Amt gehobenen EU-Kommissionspräsidentin werden in den Vordergrund gespielt, ein vermeintlicher diplomatischer Skandal mit Macho-Attitüde wird konstruiert und der türkische Präsident lacht sich ins Fäustchen.
Über eine Woche ist es her, dass es bei einem Besuch der Präsidentin der Europäischen Kommission und des EU-Ratspräsidenten Charles Michel in Ankara zu einer Situation kam, die für Aufregung sorgte. Beim Empfang der beiden EU-Politiker durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan konnte Kommissionspräsidentin von der Leyen ganz offensichtlich keine Sitzgelegenheit für sich entdecken, die sie für angemessen hielt. Anders als EU-Ratspräsident Michel, der sich auf den Sessel zu Erdogans Rechten »pflanzte«, wie der Bayer sagt, musste sich die ehrgeizige und machtversessene EU-Politikerin auf ein danebenstehendes Sofa gegenüber dem rangniedrigeren türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu setzen. Die physiognomisch ablesbare Empörung und das deutlich vernehmbare »Ehm!?«, mit der die zuletzt wegen Beschaffung und Verteilung von COVID-Impfstoffen höchst unfähig wirkende EU-Politikerin ihre Unzufriedenheit über die Sitzordnung ausdrückte, kursiert seither mit allen Kommentarschattierungen versehen durchs Netz und andere Medien. Für die egomane Selbstdarstellerin war die Zuweisung des Platzes in der zweiten Reihe ein Skandal, den sie sich so nicht wieder gefallen lassen möchte. Für erfahrene Diplomaten wie Wolfgang Schultheiss, der von 1974 bis 2010 für das Auswärtige Amt arbeitete, geht die Platzanweisung in Ordnung, denn: »Formal betrachtet stimmt es, dass der Präsident des EU-Rats höherrangig als die Kommissionspräsidentin Frau von der Leyen ist, obgleich geringfügig«, wie er der ›FAZ‹ verrät. Außerdem, so der frühere deutsche Botschafter in Athen und in der Dominikanischen Republik, kenne das diplomatische Protokoll kein Geschlecht, weshalb auch von einer frauenfeindlichen Absicht bei Sofa-Gate nicht ausgegangen werden könne.
Wie auch immer, die bisher in ihren politischen Ämtern inkompetent agierende von der Leyen wird den vielleicht inszenierten Fauxpas der Türken aushalten. Der gelegentlich rüpelhaft auftretende Erdoğan dürfte sich dabei grundsätzlich freuen, denn durch das mediale Interesse an dem Vorfall in Ankara als einem »protokollarisch unfreundlichen Akt« wurden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Einerseits tritt das Thema der innenpolitischen Krise, in der sich die Türkei befindet, in den Hintergrund. Hohe Arbeitslosigkeit, die dritte Corona-Welle und eine Währung, die konsequent abstürzt, bringen Erdoğan in Nöte. Der Wertverlust der türkischen Lira mit einer Inflationsrate im März in Höhe von 16,19 Prozent sorgt landesweit für eine Verteuerung. Die Preise stiegen bis dato um 17,44 Prozent an. Andererseits wird durch Sofa-Gate auch die Fragwürdigkeit des Besuchs der beiden europäischen Spitzenpolitiker zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr vorrangig diskutiert. Immerhin sollte es um heikle Themen gehen, so etwa um eine Wiederannäherung an die EU über eine Kooperationsbereitschaft der Türkei im Konflikt mit den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern wegen der Gasbohrungen im östlichen Mittelmeer. Außerdem hatten die Staats- und Regierungschefs der EU Erdoğan bei einem Gipfeltreffen Ende März eine verstärkte Wirtschaftszusammenarbeit wie etwa die Modernisierung der Zollunion und finanzielle Unterstützung in Aussicht gestellt.
Statt also die Erpresserrolle der Türkei unter Erdoğans Führung zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage zu diskutieren und in einem Beschluss zu einem für die EU-Staaten befriedigenden und soliden Ergebnis zu gelangen, werden aktuell unwichtige Protokollfragen medial nach vorne gespielt. Das Europaparlament beschäftigt sich lieber mit den Nichtigkeiten protokollarischer Spitzenklöppeleien, anstatt über die Unvereinbarkeit einer möglichen türkischen EU-Mitgliedschaft zu diskutieren. Von Erdoğan war mit der Protokollposse nichts anderes zu erwarten: Immer noch hält sich die Türkei nicht an die Vorgaben der EU für die Heranführungshilfen, wie es die dramatische Verschlechterung der Demokratie- und Menschenrechtslage in der Türkei deutlich macht. Beispiele sind die Kündigung der völkerrechtlich verbindlichen Frauenrechts-Charta, der Istanbul-Konvention, und der Antrag auf das Verbot der zweitgrößten Oppositionspartei, der kurdisch-linken HDP. Auch der Angriff Erdoğans auf pensionierte Ex-Generäle, die sich gegen eine Kündigung des internationalen Abkommens über die Schifffahrt durch die Dardanellen und den Bosporus, das sogenannte »Montreux-Abkommen«, wehren, lässt die Türkei in schlechtem Licht erscheinen.
Klare Ansagen an den zunehmend despotischer agierenden türkischen Staatschef und eine durchgesetzte harte Finanzpolitik sowie militärisch-polizeiliche ausreichende Sicherung der europäischen Außengrenzen in Griechenland würden der EU-Spitzenpolitik die notwendige Glaubwürdigkeit verpassen und der EU die Erpressbarkeit nehmen. Angesichts dieser Aufgabenstellungen kann dann den Europäern die eitle Inanspruchnahme von Sitzmöbeln im wahrsten Sinne des Wortes »am Arsch vorbei« gehen.
Markus Buchheit
ist Mitglied des Europäischen Parlaments und stellvertretender Delegationsleiter der AfD. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf Fragen des internationalen Handels, der Industriepolitik sowie des Verbraucherschutzes auf EU-Ebene.