Narren und Kinder plappern alles aus. Mit dementen Greisen ist es ebenso. US-Präsident Joe Biden bescherte seinen Getreuen wieder mal einen Schreckensmoment, als er bei einer Rede in Warschau über den russischen Präsidenten Vladimir Putin herzog: Ein „Schlächter“, ein „Kriegsverbrecher“, ein „mörderischer Diktator“ – „Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.“
Zwar versuchte sich Außenminister Blinken unverzüglich in Schadensbegrenzung und betonte, die USA hätten „keine Strategie für einen Regimewechsel in Russland oder sonstwo“. Ein Dementi ist eine Bestätigung, sagt eine alte Diplomatenweisheit. „Regimewechsel“ sind bekanntlich eine Spezialität der US-Hegemonialpolitik, das lehrt nicht zuletzt die US-Politik der letzten 25 Jahre in Sachen Ukraine und Nato-Osterweiterung.
Die vielen Väter des Krieges
Kriege haben viele Väter. Die unmittelbare Verantwortung für den russischen Einmarsch in das Nachbarland Ukraine, für die verheerenden Kriegsschäden, die Leiden und die Todesopfer in der Zivilbevölkerung trägt zweifellos der russische Präsident. Wer aber verstehen will, wie es dazu kommen konnte und wie der Konflikt gelöst werden könnte, der kommt nicht umhin, den US-amerikanischen Anteil an der Eskalation der Lage in dieser geostrategisch sensiblen und explosiven Region in Augenschein zu nehmen.
Der amerikanisch-russische Machtkampf um die Ukraine hat eine mehr als drei Jahrzehnte lange Vorgeschichte. An ihrem Beginn steht ein gebrochenes Versprechen der USA. Im Februar 1990 hatte US-Außenminister James Baker dem Generalsekretär der KPdSU und sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow die Zusage gegeben, die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen. Das geschah auf Vorschlag des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, um sowjetische Bedenken gegen die Wiedervereinigung Deutschlands zu zerstreuen.
Am Anfang war der Wortbruch
Das Versprechen der USA und der Nato wurde zwar nicht schriftlich fixiert, auch nicht in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, wurde aber wiederholt bekräftigt, unter anderem durch den damaligen Nato-Generalsekretär Manfred Wörner, und ist von deutschen wie von amerikanischen Diplomaten, die an den damaligen Verhandlungen teilnahmen, gut bezeugt.
Auch die Regierung des demokratischen Präsidenten Bill Clinton, der 1993 den Republikaner George Bush senior abgelöst hatte, hielt sich anfangs an diese Zusage, änderte jedoch unter dem Druck oppositioneller republikanischer „Neocons“ und von Hardlinern aus dem militärisch-industriellen Komplex bald ihren Kurs. Ab 1997 betrieb namentlich die kürzlich verstorbene Außenministerin Madeleine Albright offensiv die Osterweiterung der Nato.
Ermuntert fühlten sich die USA dabei offensichtlich durch die anhaltende innere Schwäche Russlands. Unter dem ersten Präsidenten Boris Jelzin hatten US-Wirtschaftsberater (die berüchtigten „Chicago Boys“) und US-Unternehmen freie Hand, die radikale Privatisierung der ehemaligen Staatswirtschaft per Schocktherapie machte diese Eliten und einige mit ihnen verbundene „Oligarchen“ schwerreich, während das Volk rasant verarmte.
Amerikas Wahn von der „einzigen Weltmacht“
Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater von fünf US-Präsidenten, zuletzt von Barack Obama, hat den Übermut der USA nach dem „gewonnenen“ Kalten Krieg und die imperiale geostrategische Agenda hinter der Nato-Osterweiterung 1997 in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ ausgebreitet. Brzezinski beruft sich auf die 1904 formulierte und 1919 bekräftigte „Heartland“-Theorie des britischen Geopolitikers Halford Mackinder: Wer das eurasische „Herzland“ zwischen Oder und Don kontrolliere, der beherrsche Europa.
Mackinder wollte im Vorfeld und Kontext des ersten Weltkriegs vor deutscher Dominanz auf dem Kontinent warnen und ein deutsch-russisches Zusammengehen verhindern. Brzezinski greift dieses geopolitische Argument auf, ganz im Sinne des ursprünglichen Zwecks der Nato, wie ihn ihr erster Generalsekretär Lord Ismay in den 1950er Jahren auf den Punkt gebracht hatte: Um die Amerikaner in Europa drinnen zu halten, die Russen draußen zu halten und die Deutschen unten zu halten („to keep the Americans in, the Russians out and the Germans down“). Der Schlüssel zur Neutralisierung Russlands ist für Brzezinski die Ukraine:
„Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.“
Die Nato als Instrument der Expansion
Das Sicherheitsbedürfnis der Staaten Mittel- und Osteuropas, die nach Jahrzehnten sowjetisch-russischer Fremdherrschaft ihre Unabhängigkeit wiedergewonnen hatten, kam dieser Strategie entgegen. Die vom Kommunismus befreiten Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts suchten Absicherung im westlichen Bündnis gegen den unberechenbaren und krisengeschüttelten russischen Nachbarn, der von 1994 bis 1996 in einen ersten blutigen Tschetschenienkrieg verwickelt war. Im Schlüsseljahr 1997 wurde Polen, Tschechien und Ungarn der Nato-Beitritt angeboten und 1999 vollzogen. Der innenpolitisch geschwächte russische Präsident Boris Jelzin protestierte vergeblich.
An warnenden Stimmen fehlte es nicht, auch nicht auf amerikanischer Seite. George F. Kennan, Architekt der Politik der „Eindämmung“ der Sowjetunion im Kalten Krieg, bezeichnete den Aufnahmebeschluss als „tragischen Fehler“, den man ohne Not begangen habe: „Ich glaube, dass dies der Beginn eines neuen Kalten Krieges ist.“ Aus russischer Sicht sei die Nato ein Relikt der Konfrontation der Blöcke, erkannte auch Vize-Außenminister Strobe Talbott: Viele Russen fragten, warum der Westen sein Militärbündnis nicht ebenfalls auflöse, so wie sie selbst den Warschauer Pakt aufgelöst hätten.
Zwanzig Jahre US-Handelskrieg gegen Russland
Mit dem Geheimdienstmann Wladimir Putin, seit August 1999 Ministerpräsident und seit Mai 2000 Staatspräsident Russlands, hatte allerdings ein neuer und entschlossener Akteur die Bühne betreten. Putin ging gegen soziale Verarmung, Währungsverfall und Kriminalität im Inneren vor, nahm die Reorganisation der Armee in Angriff, entmachtete Krisengewinnler und Milliardäre („Oligarchen“), die sich ihm widersetzten und als Staat im Staate aufspielten, und beschnitt die Arbeitsmöglichkeiten US-amerikanischer Einflussorganisationen, die unter Jelzin fast nach Belieben schalten und walten konnten und Russland wie eine Kolonie behandelten.
Das begründete Putins langanhaltende Popularität im Inneren, wurde aber von US-Weltmachtstrategen als Kampfansage aufgefasst. „Ein Jahrzehnt lang hatten wir es in der Hand. Wir haben es vergeigt“, schrieb der Spekulant und Strippenzieher George Soros im April 2000 an seine Leute. 2001 verabschiedete der US-Kongress das erste Sanktionsgesetz gegen Russland. Seither führen die USA unter dem Deckmantel von „Strafmaßnahmen“ faktisch einen Handelskrieg gegen Russland und seine Handelspartner.
Gleichwohl ging Putin in seiner ersten Amtszeit nicht auf frontalen Gegenkurs zum Westen und zur Nato. Wer aus heutiger Sicht mit schrägen Vergleichen zur Vorgeschichte des zweiten Weltkriegs behauptet, Russland und Putin hätten von Anfang an auf militärische Konfrontation und „imperialistische“ Eroberungen hingearbeitet, betreibt schlicht Geschichtsklitterung.
Washington will keine Partnerschaft auf Augenhöhe
Wiederholt betonte Putin, besonders eindringlich in seiner auf Deutsch gehaltenen Rede vor dem Deutschen Bundestag am 25. September 2001, Russlands Interesse an einer „vollwertigen Zusammenarbeit und Partnerschaft“ und unterstrich gemeinsame Interessen, nicht nur wirtschaftlicher Art, sondern auch bei der gemeinsamen Bekämpfung der globalen Herausforderung des islamischen Terrorismus. Russland war in diesen Jahren von einer Serie schwerer tschetschenischer Terroranschläge heimgesucht und führte seit 1999 eine verlustreiche Militäroperation in Tschetschenien, die ein volles Jahrzehnt andauerte.
Putin entwickelte die Vorstellung einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur und erklärte sogar die Bereitschaft Russlands, sich zu diesem Zweck der Nato anzuschließen. Allerdings als Partner auf Augenhöhe; der herablassende Bescheid aus Washington, er könne ja ein Beitrittsgesuch stellen – so wie die Slowakei oder Bulgarien –, war mit dem russischen Großmachtanspruch nachvollziehbar nicht zu vereinbaren.
Schlüsselregion Ukraine
Die Vorstellung eines „gemeinsamen europäischen Hauses“, mit der Putin ein Schlagwort Gorbatschows aufgriff, passte offenkundig nicht in die Pläne der USA, die die Grenzen der Nato auch unter dem jüngeren Bush weiter an Russland heranschoben. Die zweite Runde der Nato-Osterweiterung, die 2004 neben Estland, Lettland und Litauen auch Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Slowenien zu Nato-Mitgliedern machte, musste von Moskau als Fortsetzung der „Einkreisung“ wahrgenommen werden, auch wenn der russische Präsident sich dem Nato-Beitritt der baltischen Staaten nicht grundsätzlich widersetzte.
Bereits zu diesem Zeitpunkt stand die Ukraine im Zentrum der US-amerikanischen Strategie. Im selben Jahr, in dem Brzezinski sein geostrategisches Manifest veröffentlicht hatte, beschloss der Madrider Nato-Gipfel von 1997 die „Nato-Ukraine-Charta“. Seither betreiben die USA die Aufnahme der Ukraine in das Bündnis, um das Land in ihrer Einflusssphäre zu verankern.
Die USA inszenieren den ersten Regimewechsel in Kiew
2004 schien der Zeitpunkt gekommen. Mit beträchtlichem finanziellem und politischem Einsatz inszenierte die Regierung des jüngeren George Bush einen Regimewechsel in Kiew. Kaum war der neue US-Botschafter John Herbst 2003 in der ukrainischen Hauptstadt angekommen, kam es zu Unruhen. US-PR-Firmen und Institutionen, lokale Gruppen, „zivilgesellschaftliche“ Kräfte, die zuvor schon in Georgien die „Rosen-Revolution“ organisiert hatten, finanziert vom State Department und von den Organisationen des Milliardärs George Soros, orchestrierten die „Orangene Revolution“, die im zweiten Anlauf 2005 den US-Kandidaten Viktor Juschtschenko ins Präsidentenamt brachte.
Juschtschenko sollte die Ukraine in die Nato führen. Als Gouverneur der ukrainischen Zentralbank hatte er in den Neunzigern die Ukraine mit einem Radikalreformprogramm ähnlich ins Chaos gestürzt wie Jelzins „Chicago Boys“ zur selben Zeit Russland. Juschtschenkos Frau, eine in Chicago geborene US-Bürgerin, war mit der Regierung Bush und US-Einflussorganisationen bestens vernetzt.
Putin zieht eine „rote Linie“
Vor diesem Hintergrund zog Wladimir Putin seine „Rote Linie“. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz bezeichnete er im März 2007 die Nato-Erweiterung als „ernsthafte Provokation, die das gegenseitige Vertrauen verringert“, und kritisierte den Bruch der Zusagen von Anfang der neunziger Jahre, nach der Auflösung des Warschauer Pakts auf eine Osterweiterung der Nato zu verzichten.
Putin erklärte unmissverständlich, dass Moskau eine weitere Ausdehnung der Nato auf ehemalige Sowjetrepubliken, namentlich die Ukraine und Georgien, nicht hinnehmen würde. Dennoch schlug die Regierung Bush auf dem Bukarester Nato-Gipfel im April 2008 die Aufnahme der beiden Länder vor. Ein sofortiger Beitritt wurde durch das Veto Frankreichs und Deutschlands damals noch verhindert.
Die USA greifen nach Georgien und der Ukraine
Die Beitrittsperspektive und amerikanische Ermunterungen veranlassten die von den USA ins Amt gebrachte Regierung Georgiens zu einer dilettantischen Militäroperation gegen Separatisten im eigenen Land, die von Russland mit einer schnellen und harten Intervention beantwortet wurden. Unter russischem Schutz spalteten sich Südossetien und Abchasien ab. Die Nato-Perspektive Georgiens lag damit zunächst auf unabsehbare Zeit auf Eis – kein Land, das offene militärische Grenzstreitigkeiten mit seinen Nachbarn hat, kann Mitglied der Nato werden, weil es sofort das ganze Bündnis in einen Krieg verwickeln würde.
Der ukrainische Beitritt wiederum erledigte sich vorerst durch das Scheitern der von den USA installierten Regierung Juschtschenko, die im Korruptionssumpf und im Dauerkonflikt mit seiner Mitstreiterin, der als vormalige Energieministerin zur Erdgas-Milliardärin aufgestiegenen „Gasprinzessin“ Julia Tymoschenko, versank. Die Wahl des 2005 knapp unterlegenen Viktor Janukowytsch, der mit den Kohle- und Stahlmagnaten im russischen Osten der Ukraine verbunden war und deren Interessen an guten Wirtschaftsbeziehungen zu Russland zu wahren suchte, war 2010 ein Rückschlag für die US-Expansionsstrategie.
Ökonomische Begehrlichkeiten
Der Rückschlag traf auch eine Reihe großer US-Konzerne und finanzpolitischer Akteure empfindlich an ihren wirtschaftlichen Interessen, die von den machtpolitischen Interessen der USA wie immer kaum zu trennen sind. Zwar gehört die Ukraine zu den ärmsten und korruptesten Ländern Europas, aber ihre natürlichen Reichtümer wecken Begehrlichkeiten. Agrarkonzerne wie Monsanto und Kraft hatten ihr Auge auf die ertragreichen Böden des Landes gerichtet, die die Ukraine zu einem der größten Getreideexporteure der Welt machen, während die Erdgasvorkommen im Osten und die Schiefergasfelder im Westen des Landes westliche Energiekonzerne wie Shell oder Chevron anlocken.
Der nächste inszenierte Regimewechsel war daher nur eine Frage der Zeit. Auch die Regierung Obama verfolgte die Strategie der Verdrängung Russlands aus dem europäischen „Herzland“ weiter. Mit der abfälligen Bemerkung, Russland sei nur noch eine „Regionalmacht“, richtete Präsident Obama eine provokative Kampfansage an die wiedererstarkende Großmacht Russland. Das Zögern des ukrainischen Präsidenten Janukowytsch, sein Land einseitig an EU und Nato zu binden, besiegelte sein Schicksal.
Amerikas zweiter Putsch in der Ukraine
Die Maidan-Revolution bot zur Jahreswende 2013 auf 2014 eine neue Chance, die Ukraine endgültig in den US-Machtbereich zu integrieren. Die Eskalation der Proteste gegen das Aufschieben des EU-Assoziationsabkommens erzwang den Machtwechsel, bei dem diesmal auch Blut floß. Abgehörte Telefonate mit der US-Botschaft in Kiew bestätigten die treibende Rolle der Osteuropa-Beauftragten des US-Außenministeriums Victoria Nuland. Sie suchte den auf US-Druck eingesetzten Übergangsministerpräsidenten Arseni Jazenjuk aus – „Jaz is our man!“ – und wischte Bedenken der EU-Offiziellen mit dem Ausruf „Fuck the EU!“ auf die Seite.
„Jaz“ wurden zuverlässige Leute zur Seite gestellt: Die US-Bürgerin, ehemalige Mitarbeiterin des State Department und Investmentbankerin Natalia Jaresko als Finanzministerin und der litauische Investmentbanker Aivaras Abromavicius als neuer Wirtschaftsminister. Beide erhielten im Eilverfahren noch schnell die ukrainische Staatsbürgerschaft.
Das ukrainische Business der Familie Biden
Damit waren die Weichen für die ungestörte weitere Ausplünderung der bankrotten Ukraine gestellt. Nationale Wirtschaftsinteressen flossen dabei mit den familiären Interessen des damaligen Vizepräsidenten Joe Biden zusammen. Dessen Sohn Hunter Biden erhielt einen lukrativen Job im größten Erdgasunternehmen der Ukraine und nutzte in den Folgejahren die Stellung seines Vaters großzügig zur eigenen Bereicherung.
Hunter Bidens einschlägige E-Mail-Korrespondenz tauchte kurz vor den Präsidentenwahlen 2020 auf einem leichtfertig aus der Hand gegebenen tragbaren Rechner auf. Die Biden-freundliche US-Presse tat die Affäre im Wahlkampf als „russische Desinformation“ ab; inzwischen steht fest, dass die E-Mails, die auch eine Verstrickung Hunter Bidens in die Finanzierung ukrainischer Biotech-Labore nahelegen, authentisch sind.
Konfliktherd Ukraine
Militärstrategisch war der Umsturz in der Ukraine für die USA allerdings zunächst ein Fehlschlag. Nachdem die neue ukrainische Regierung die Verlängerung des Pachtvertrags mit Russland für den Kriegshafen Sewastopol, seit der Zerschlagung des Khanats der Krimtataren im 18. Jahrhundert Standort der russischen Schwarzmeerflotte, in Frage stellt, vollzieht Moskau nach einem Referendum der überwiegend russischen Bevölkerung der Krim im März 2014 den Anschluss der Halbinsel an Russland.
Im April desselben Jahres erklären sich die ebenfalls überwiegend russisch bewohnten Bezirke Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine unter russischer Protektion zu unabhängigen „Volksrepubliken“. Damit hat die Ukraine, wie Georgien, offene Grenzstreitigkeiten und scheidet als Nato-Mitglied vorerst aus.
Die von Russland, der Ukraine, Frankreich und Deutschland ausgehandelten Minsker Abkommen vom September 2014 und Februar 2015, die neben der Demilitarisierung der Gebiete eine Föderalisierung der Ukraine und einen in der Verfassung verankerten Sonderstatus für die beiden Bezirke vorsehen, wurden auch von Kiew nicht umgesetzt, die Waffenstillstandsvereinbarungen von beiden Seiten laufend gebrochen.
Immer tiefer im Korruptionssumpf
Amerikanische Militär- und Waffenhilfen nähren in der ukrainischen Regierung die Hoffnung, die abgetrennten Gebiete wieder zurückerobern zu können. Im Januar 2018 erlässt Kiew ein „Reintegrationsgesetz“ über die abtrünnigen „Volksrepubliken“, das der Verhängung des Kriegsrechts gleichkommt. Die mit Waffen, Geld und Ausbildern aus den USA aufgerüstete ukrainische Armee verstärkt seither laufend ihre militärischen Aktivitäten im Osten.
Wirtschaftlich ist das Land noch mehr als zuvor von den USA und der EU abhängig, ohne auf eigenen Füßen stehen zu können. Gegenüber der EU ist die Ukraine nicht wettbewerbsfähig und ist zum Rohstofflieferanten und zur billigen Werkbank degradiert, während die Verbindungen zum benachbarten Russland, mit dem das Land geographisch und historisch auf vielfache Weise verflochten ist, unterbrochen sind. Die Mitgliedschaft in EU und Nato, 2019 in Verfassungsrang erhoben, erscheint als rettender Strohhalm.
Zugleich versinkt das Land weiter in Verarmung und Korruption. Daran ändert auch die scheinbar überraschende Wahl Wolodymyr Zelenskijs zum Staatspräsidenten im Mai 2019 nichts. Zelenskij, ein auch in Russland beliebter TV-Komiker, der mit einer Anti-Korruptions-Show populär geworden war, hatte sich ebenfalls an Verbindungen zu „Oligarchen“, die er in seiner Sendung verspottet hatte, bereichert, brachten die „Pandora Papers“ an den Tag. Noch im Herbst 2021 galt der heutige „Freiheitsheld“ als gründlich entzauberte Enttäuschung.
Zankapfel „NordStream2“
Auf die Durchleitungsgebühren für russisches Erdgas nach Europa kann auch eine vom Westen abhängige Ukraine nicht verzichten. Für Kiew ist die Ostseeleitung „NordStream2“, über die Deutschland ohne den Weg über die Ukraine seinen Gasbedarf aus Russland preisgünstig decken könnte, eine Bedrohung; den USA ist das Projekt ein Dorn im Auge, weil es die russisch-deutsche wirtschaftliche Partnerschaft festigt und einer Belieferung Deutschlands mit teurerem amerikanischem Flüssiggas im Wege steht.
Auch US-Präsident Donald Trump verschärfte in seiner Amtszeit den Handelskrieg gegen Russland mit Sanktionen gegen „NordStream2“ und seine Projektpartner, auch in Deutschland. Trump argumentierte strategisch mit der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen, die es zu vermeiden gelte, und hatte dabei vor allem die Interessen der heimischen Fracking-Industrie im Blick.
Dagegen vermied es Trump, die Konfrontation mit Russland über die Förderung der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine auf die Spitze zu treiben. Es ist wohl keine Prahlerei, wenn Trump erklärt, mit ihm als Präsident wäre es nicht zum Ukraine-Krieg gekommen. Für Trump hatte die globale Konkurrenzsituation zur kommenden Weltmacht China eindeutig Priorität.
Joe Biden und die Kalten Krieger
Das änderte sich mit der Wahl von Obamas einstigem Vize Joe Biden zum neuen US-Präsidenten. Mit Biden, einem Mann des Kalten Krieges, hatten die Hardliner des militärisch-industriellen Komplexes wieder Oberwasser. Altbekannte Gesichter kehren mit ihm auf die Bühne zurück, allen voran die Drahtzieherin des Maidan-Putsches von 2013/14, Victoria Nuland, nunmehr als Vize-Außenministerin.
Mit Biden und Nuland stand die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine wieder ganz oben auf der Agenda. Kaum verwunderlich setzte auch die ukrainische Regierung, die tiefer denn je im Sumpf aus Korruption und wirtschaftlicher Stagnation steckt, alles auf diese Karte. Die vielfältigen Warnsignale aus Moskau ignorierten beide vorsätzlich.
„Jede Großmacht hat ihre Monroe-Doktrin“
Die Sanktionen, die USA und EU seit 2014 gegen Russland wegen des Anschlusses der Krim und der Förderung der Separatisten im Donbass-Gebiet verhängen und laufend verschärfen, haben ihre Wirkung verfehlt: Für Russland geht es um fundamentale Sicherheitsinteressen. Die ab 2016 erfolgte Stationierung von US-Raketen in Polen, mit denen auch Moskau erreicht werden kann, stellte für Russland eine weitere Provokation dar.
Die Möglichkeit amerikanischer Militärbasen und Raketenstellungen in Charkow oder Odessa ist für Russland ähnlich inakzeptabel wie in der Kuba-Krise die geplante Stationierung sowjetischer Raketen in der Karibik für die USA. „Jede Großmacht hat ihre Monroe-Doktrin. Und die anderen Großmächte sind gut beraten, diese zu akzeptieren“, konstatiert der Publizist Alexander Grau.
Seit April 2021 hat Russland Truppen an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren lassen, um seine „rote Linie“ zu markieren. Das Ziel, damit Verhandlungsdruck aufzubauen, um zu einem Übereinkommen über Russlands Sicherheitsinteressen zu kommen, hat diese Drohkulisse verfehlt. Sowohl die Ukraine als auch die USA haben acht Monate lang viele Gelegenheiten verstreichen lassen, um den Hauptstreitpunkt – die anvisierte Nato-Mitgliedschaft der Ukraine – zu entschärfen.
Ein Pyrrhussieg für Biden?
Für die vom Westen leichtfertig genährte Illusion ihrer politischen Führung, sich in EU und Nato retten zu können, zahlt die Ukraine einen hohen Preis. Der Krieg findet in ihrem Land statt, und niemand im Westen denkt ernsthaft daran, sich mit allen Konsequenzen hineinziehen zu lassen.
Das Kalkül der Biden-Regierung scheint hingegen vordergründig aufgegangen: Die Ukraine, oder was von ihr übrigbleibt, ist enger denn je an den Westen gebunden und gewaltsam mit Russland entzweit. Deutschland kappt panisch nicht nur die milliardenteure Erdgasleitung NordStream2, die betriebsbereit auf dem Boden der Ostsee liegt, sondern seine vielfältigen wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland, die durchaus zum beiderseitigen Vorteil waren.
Die Idee einer russisch-europäischen Freihandelszone und einer engen wirtschaftlichen Vernetzung zwischen Deutschland und Russland, für die Wladimir Putin im ersten Jahrzehnt seiner Regierung geworben hatte, liegt dank der von den USA durchgesetzten harten Sanktionen ferner denn je – ganz im Sinne der „Weltmacht“-Doktrin Brzezinskis, die die USA seit einem Vierteljahrhundert verfolgen.
Und doch könnte der russisch-ukrainische Krieg, mit dem sich Putin so eklatant ins Unrecht gesetzt hat, für die USA und Biden zum Pyrrhussieg werden. Die Isolation treibt Russland näher an China, die kommende Weltmacht und den eigentlichen globalen Konkurrenten sowohl der USA als auch Europas. Der indische Subkontinent weigert sich zum Verdruss des Westens, Russland zu boykottieren, und steht neben China als riesiger und hungriger Ersatzmarkt für russische Rohstoffexporte bereit.
Das treibt ebenso wie die Verbannung Russlands aus dem westlich dominierten Finanzsystem die Ent-Dollarisierung der Weltwirtschaft voran und stellt damit die Grundlagen der auf die Dollar-Nachfrage gegründeten globalen Dominanz der USA in Frage. Für das Einfrieren der wirtschaftlichen Beziehungen zum russischen Nachbarn werden die Europäer und vor allem Deutschland mit massiven Wohlstandsverlusten bezahlen. Auch dieser Krieg wird, wie jeder Krieg, am Ende nur Verlierer kennen.