DK-Sonderserie zur Bundestagswahl: Die spannendsten Wahlnächte seit 1949 – dritter und letzter Teil

Zum 21. Mal seit 1949 wählt Deutschland am 23. Februar sein nationales Parlament, den Deutschen Bundestag. Sieg und Niederlage, Licht und Schatten – Tränen der Freude, Tränen der Verzweiflung: Wie oft lagen sie in irren Wahlnächten dicht beisammen! Der frühere „Bild“-Politikchef Einar Koch erzählt in dieser fesselnden zeitgeschichtlichen DK-Sonderserie die spannendsten Wahlnächte seit 1949.

In den ersten beiden Teilen ging es um die Nachkriegs-Ära in den 50er Jahren unter CDU-Kanzler Konrad Adenauer und die Wirtschaftswunderjahre in den Sechzigern mit dem Aufstieg von Willy Brandt (SPD) zum Kanzler. Im dritten und letzten Teil wirft der Autor einen Blick zurück auf die Kanzlerschaft von Helmut Schmidt (SPD), Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD). Den Schlusspunkt setzt das Jahr 2005, als mit Angela Merkel (CDU) das Unheil seinen Lauf nimmt.

VON EINAR KOCH*

1972: Die Wahlbeteiligung steigt auf unglaubliche 91,1 Prozent!

Nach mehreren abtrünnigen Abgeordneten hatte die erste sozial-liberale Koalition keine stabile Mehrheit mehr – am 19.November 1972 kam es erstmals zu Neuwahlen. Sie endeten mit dem bisher größten Erfolg der Sozialdemokraten: 45,8 Prozent. Die Wahlbeteiligung schnellte auf bisher nie wieder erreichte 91,1 Prozent!

Nach der Senkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre durften auch junge Menschen erstmals an die Urnen. Das alles beherrschende Thema war die neue Ostpolitik. Brandt und sein Außenminister Scheel (FDP) konnten komfortabel weiter regieren.

Spontane Fackelzüge, „Willy,Willy“-Rufe, als sich nach den ersten Hochrechnungen um 18.37 Uhr der Wahlsieg Brandts abzeichnete. Die spätere First Lady Mildred Scheel: „Kneift mich, damit ich weiß, dass ich nicht träume!“ Mit einer roten Rose im Knopfloch zeigte sich Brandt kurz nach 22 Uhr am Fenster des Kanzleramtes.

Der große Wahlverlierer Rainer Barzel (CDU) weinte: „Komm Puppe“, sagte er zu seiner Tochter Claudia (23), als er die CDU-Wahlparty (Würstchen, Kartoffelsalat, Bier) zur gleichen Stunde verließ. Er wusste nur zu gut: Der Sieg kennt viele Väter, die Niederlage nur einen!

1976: TV-Eklat um SPD-„Zuchtmeister“ Wehner

Die Wahl am 3. Oktober 1976 war die erste Bewährungsprobe für Brandts Nachfolger Helmut Schmidt (SPD). Brandt war 1974 nach der Spionage-Affäre Guillaume von SPD-Fraktionschef Herbert Wehner gestürzt worden und als Kanzler zurückgetreten. Die Wahlbeteiligung auch dieses Mal hoch: 90,7 Prozent.

Für die Unionsparteien trat der junge CDU-Vorsitzende und Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl (46), an. Die Union wurde mit 48,6 Prozent zwar wieder stärkste Fraktion, musste aber zum zweiten Mal in die Opposition. Neuer starker Mann der FDP (7,9 Prozent) war jetzt nach Scheel Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Er setzte die Koalition mit Helmut Schmidt (SPD: 42,6 Prozent) fort. Der Pfälzer Kohl („Ich will aber Kanzler werden“) wechselte von Mainz als Oppositionschef nach Bonn.

Die Wahlnacht ging in die Fernsehgeschichte ein! Der wortgewaltige SPD-„Zuchtmeister“ Herbert Wehner zischte ARD-Reporter Ernst Dieter Lueg im TV an: „Sie wissen nichts! Und ich weiß nichts – HERR LÜG!“ Der ARD-Mann konterte schlagfertig: „Vielen Dank für diese Zwischenkommentierungen, HERR WÖHNER!“

1980: Die CSU setzt Strauß als Kanzlerkandidaten durch

Freitagnacht vor der Bundestagswahl am 5.Oktober 1980 rüttelte nach einer Kneipentour ein junger SPD-Abgeordneter an den Gitterstäben des Bonner Kanzleramtes: „Ich will da rein!“ Gerhard Schröder (36) sollte noch 18 Jahre warten müssen…

Die bayerische CSU hatte ihren Parteichef, Ministerpräsident Franz Josef Strauß, als Kanzlerkandidaten durchgesetzt. Die Union fiel auf 44,5 Prozent zurück. Der barocke CSU-Chef stieß mit seiner polternden Art viele CDU-Anhänger nördlich des Mains ab. Davon profitierte die FDP (10,6 Prozent).

Schon kurz nach 20 Uhr, als sich die Hochrechnungen stabilisierten, hechtete Genscher mit Gefolge die Treppe im Bonner Kanzleramt zu Schmidts Büro hoch, um die sozial-liberale Koalition (SPD: 42,9 Prozent) mit geschäftsmäßiger Leidenschaftslosigkeit noch einmal zu besiegeln.

Schmidt habe einen „Pyrrhussieg“ errungen, grantelte Strauß. Neben dem CSU-Chef saß am Wahlabend dessen „Männerfreund“ Helmut Kohl. Genüsslich zog der Pfälzer an seiner Pfeife: Kohl war wieder die Nr.1 der Union. Er ahnte, dass seine Stunde schon bald kommen sollte.

1983: Die Grünen ziehen in den Deutschen Bundestag

Zum zweiten Mal in der Geschichte der Republik kam es am 6. März 1983 zu Neuwahlen, nachdem der Deutsche Bundestag zuvor Helmut Schmidt (SPD) mit dem sogenannten Konstruktiven Misstrauensvotum gestürzt und Helmut Kohl mit den Stimmen der Genscher- FDP zum Kanzler gewählt hatte. Die Wahl 1983 brachte mit dem Einzug der „Grünen“ (5,6 Prozent) eine neue politische Farbe ins Bonner Parlament!

Kohl (CDU/CSU: 48,8 Prozent) konnte mit satter Mehrheit (FDP: 7,0 Prozent) weiter regieren. Die SPD, die mit Hans-Jochen Vogel angetreten war, erhielt 38,2 Prozent. Die Wahlbeteiligung: 89,1 Prozent.

In der Wahlnacht 1983 herrschte eine ähnliche Aufbruchstimmung wie 1969 bei Willy Brandt, nur mit umgekehrten Parteivorzeichen. Nach der ersten Hochrechnung um 18.17 Uhr gab es auf der CDU-Wahlparty kein Halten mehr: Minutenlange Ovationen für den strahlenden Wahlsieger Helmut Kohl, nicht enden wollende „Helmut, Helmut“-Rufe in der Bonner Nacht. Fackelzüge der Jungen Union.

1987: Strauß lallt im TV

Bei der Wahl am 25. Januar 1987 fuhr die Union (44,3 Prozent) herbe Verluste ein, Kohl konnte aber das Bündnis mit der FDP (9,1 Prozent) fortsetzen. Die SPD, jetzt mit Johannes Rau als Kanzlerkandidat, fiel auf 37 Prozent zurück, die „Grünen“ legten auf 8,3 Prozent zu. Wahlbeteiligung: 84,3 Prozent.

Deutschland amüsierte sich über den TV-Auftritt von CSU-Chef Strauß, der seinen Ärger über das Wahlergebnis schon mit reichlich fränkischem Bocksbeutel heruntergespült zu haben schien. Gegen Ende der Bonner „Elefantenrunde“ von ARD und ZDF ließ sich der bayerische Ministerpräsident aus München dazu schalten. Fast zehn Minuten lang wetterte Kohls „Männerfreund“ mit schwerer Zunge gegen dessen „Bonner Politik“. Zwischenfragen ließ Strauß kaum zu: „Eine so dumme Frage sollten Sie nicht stellen. Meine Güte, schminken Sie sich doch den Bart ab!“ Konsequenzen aus dem Wahlergebnis? „Sie können sich darauf verlassen!“ Welche? „Meine Angelegenheit!“ Ob er an den Koalitionsverhandlungen teilnehme? „Das Gegenteil wäre mir völlig neu.“

1990: Die Deutschen wählen zum ersten Mal gemeinsam den Bundestag

Die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 stand ganz im Zeichen der Wiedervereinigung zwei Monate vorher. Kohl siegte zum vierten Mal, jetzt als „Kanzler der Einheit“ (Union: 43,8 Prozent; FDP: 11,0 Prozent).

Die SPD mit Oskar Lafontaine als Kanzlerkandidat landete abgeschlagen bei 33,5 Prozent. Die „Grünen“, die sich jetzt „Bündnis 90/Die Grünen“ nannten, schafften mit 5,1 Prozent nur knapp den Sprung in das erste gesamtdeutsche Bonner Parlament. Die Wahlbeteiligung lag trotz „Einheitswahl“ jetzt deutlich niedriger: nur noch 77,8 Prozent.

Kohl feierte im Bonner Kanzler-Bungalow bei Züricher Geschnetzeltem und Tiramisu. Zwischendurch musste er kurz ans Telefon: „Congratulation, Helmut! Good luck!“, meldete sich US-Präsident George Bush (Senior) von der anderen Seite des Atlantik.

1994: Kohl wird zum letzten Mal Kanzler

Die Wahl zum 13. Deutschen Bundestag am 16. Oktober 1994 läutete die fünfte und letzte Amtszeit von Kanzler Kohl ein, der schon fast so lange regierte wie vor ihm nur Adenauer. Die schwarz-gelbe Koalition hatte es noch einmal geschafft (CDU/CSU: 41,4 Prozent; FDP: 6,9 Prozent).

Die SPD mit Rudolf Scharping als Kanzlerkandidat verbesserte sich leicht auf 36,4 Prozent. Auch die „Grünen“ legten wieder zu: 7,3 Prozent. Die PDS scheiterte mit 4,4 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde, zog aber trotzdem in Gruppenstärke (17 Abgeordnete) in das Bonner Parlament ein, nachdem die SED-Nachfolgepartei in Berlin vier Direktmandate errungen hatte. Wahlbeteiligung: 79 Prozent.

Bei der CDU-Wahlparty herrschte eine vorausahnende Endzeit-Stimmung: „Wir sind noch einmal davon gekommen.“ Zu Matjes und Leberkäs‘ gab es reichlich Pfälzer Wein und Bier. Wie der Kapellmeister auf einem sinkenden Dampfer munterte Kohl das Parteivolk auf: „Wer nicht feiern kann, kann auch nicht schaffen!“

Das „Troika“- Buffet bei den Genossen entsprach mit Rollmops in etwa der Kater-Stimmung: „Ganz okay!“, brummte (der damals noch bärtige) Scharping und sog den Qualm seiner Marlboro tief ein. Troikist Lafontaine hatte seine Chance gehabt – die Stunde von Gerhard Schröder, des Dritten im zerbrechenden Männer-Bunde der SPD, sollte vier Jahre später kommen.

1998: Schröder und Fischer regieren die Republik

Die Bundestagswahl am 27. September 1998 markierte das Ende der Ära Kohl und war der Beginn einer neuen politischen Zeitrechnung: ROT-GRÜN!

Die SPD kam auf 40,9 Prozent, die „Grünen“ landeten bei 6,7 Prozent – es sollte für die erste rot-grüne Regierung auf Bundesebene reichen!

Helmut Kohl war nach 16 Jahren Kanzlerschaft wie ein altes Schlachtross ins letzte Gefecht gezogen – die Union musste mit 35,1 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 einstecken. Die Liberalen (6,2 Prozent) gingen mit in die Opposition. Die PDS (5,1 Prozent) erreichte Fraktionsstärke. Wahlbeteiligung: 82,2 Prozent.

Rückblende: 18 Jahre waren vergangen, seit Gerhard Schröder als junger Abgeordneter nachts nach einer Kneipentour an den Gitterstäben des Bonner Kanzleramtes gerüttelt hatte: „Ich will da rein!“ An diesem historischen Wahlabend war er endlich an seinem Ziel angekommen!

Punkt 18 Uhr die erste Wahlprognose: Die SPD wird stärkste Partei! „Gerhard, jetzt wirst du Kanzler“, klopfte Lafontaine dem ewigen Rivalen mit geheuchelter Freude auf die Schulter.

Schröder saugte genüsslich an seiner Havanna, als die Hochrechnungen die Prognose bestätigten. Hunderte ausländische Journalisten bevölkerten Bonn – es war ein knappes Jahr noch bis zum Regierungsumzug nach Berlin. Tausende Handys klingelten gleichzeitig im Fest-Zelt vor der SPD-Zentrale (4000 Liter Bier, 600 Liter Wein).

Die CDU-Anhänger in Schockstarre: „Das hat Kohl nicht verdient!“ Geschlagen, aber erhobenen Hauptes ging der „Kanzler der Einheit“ vom Schlachtfeld: „An dieser Niederlage gibt es nichts zu diskutieren. Daraus ziehe ich auch selbstverständlich die Konsequenz für mich.“

2002: Edmund Stoiber (CSU) lässt schon mal den Champagner auf Eis legen

Eine solche Achterbahnfahrt der Gefühle wie am Abend des 22. September 2002 hatte es noch nie bei einer Wahl gegeben!

Schröder und die SPD (38,5 Prozent) siegten denkbar knapp mit 6.000 Stimmen vor der Union (38,5 Prozent). Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber (CSU) fehlte praktisch nur ein Häuserblock in Berlin zur Kanzlerschaft. Die „Grünen“ kamen auf 8,6 Prozent, die FDP erhielt 7,4 Prozent. Die PDS landete bei 4 Prozent. Wahlbeteiligung: 79,1 Prozent.

18.47 Uhr: Im Konrad-Adenauer-Haus, der neuen Berliner CDU-Bundeszentrale, erklärte sich Stoiber zum Wahlsieger, als er mit CDU-Chefin Angela Merkel auf das Podest stieg: „Wir haben die Wahl gewonnen!“

Tatsächlich hatte Schwarz-Gelb zu diesem Zeitpunkt in der ARD einen Vorsprung von zwei Mandaten. Im ZDF sahen die Zahlen genau umgekehrt aus – für Stoiber war das „eine knappe negative Mehrheit“. In München, wo sich der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende später krachend feiern lassen wollte, wurde schon mal der Champagner auf Eis gelegt.

Kurz nach 19.30 Uhr trat Kanzler Schröder vor die 2.000 SPD-Anhänger, die sich in Berlin-Kreuzberg vor dem Willy-Brandt-Haus, der neuen SPD-Zentrale, versammelt hatten.  Schröder reckte beide Daumen nach oben, aber er machte kein Victory-Zeichen wie 1998.

Alles hing am seidenen Faden von Briefwahl-Stimmen und Überhangmandaten. JEDE STIMME KONNTE ENTSCHEIDEN!

Erst um 22 Uhr – Stoiber war schon auf dem Flug nach München – stabilisierte sich in den Hochrechnungen der hauchdünne Vorsprung für Rot-Grün. Gegen Mitternacht machte sich Schröder zu dem Mann auf, dem er seine zweite Kanzlerschaft verdankte: Bundesaußenminister Joschka Fischer („Grüne“). Für den bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chef Edmund Stoiber war es das Aus seiner bundespolitischen Ambitionen.

2005: Schröder geht im TV auf Merkel los

Am 18. September kam es durch den Verlust der SPD-Macht in Nordrhein-Westfalen zum dritten Mal zu Neuwahlen, nachdem Kanzler Schröder im Bundestag an der Vertrauensfrage im Zusammenhang mit seinen Sozialreformen („Agenda 2010“) gescheitert war. Sie endeten mit der zweiten Großen Koalition in der Geschichte der Republik, erstmals wurde eine Frau Kanzler: Angela Merkel (CDU).

Legendär der TV-Auftritt Schröders damals: Obwohl ein SPD-Wahlsieg zu diesem Zeitpunkt aussichtslos war, redete sich der Kanzler in Rage, polterte gegen Merkel los: „Sie möchte Kanzlerin werden? Ich meine, wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen!“

Für Deutschland war es eine Schicksalsnacht: Das Unheil nahm seinen Lauf.

*Einar Koch, Jahrgang 1951, war von 1992 bis 2003 Leiter der Parlamentsredaktion der „Bild“-Zeitung in Bonn und Berlin, Politik-Chef des Blattes und zuletzt Politischer Chefkorrespondent.

 

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