Zum 21. Mal seit 1949 wählt Deutschland am 23. Februar sein nationales Parlament, den Deutschen Bundestag. Sieg und Niederlage, Licht und Schatten – Tränen der Freude, Tränen der Verzweiflung: Wie oft lagen sie in irren Wahlnächten dicht beisammen!
So wie 1949, als sich Konrad Adenauer (CDU) in der Bonner Republik selbst zum Kanzler machte. Oder bei der historischen „Willy-Wahl“ 1969. Unser Gastautor Einar Koch erzählt in dieser packenden zeitgeschichtlichen DK-Sonderserie die spannendsten Wahlnächte seit 1949. Im Mittelpunkt des ersten Teils stehen die 50er Jahre und die Ära-Adenauer.
VON EINAR KOCH*
Wahl zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft
Eine schwüle Gewitternacht brach über das zerbombte Deutschland herein, als am 14. August 1949 die Wahllokale schlossen. 31 Millionen Deutsche waren in den drei Westzonen der geteilten Nation zur ersten freien Wahl nach dem Krieg aufgerufen. Jeder hatte eine Stimme, die für den jeweiligen Bundestags-Direktkandidaten. Gewählt war außerdem, wer in einem Bundesland mindestens fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinigte. Die Wahlbeteiligung betrug beachtliche 78,5 Prozent. Denn die erste Bundestagswahl 1949 war eine fundamentale Richtungswahl:
Die Westdeutschen sollten sich zwischen Marktwirtschaft oder Planwirtschaft entscheiden. Für die Westbindung oder doch besser für einen neutralen Staat in der Hoffnung auf eine rasche Wiedervereinigung mit den Deutschen im Osten.
Noch am Vorabend der Wahl lieferten sich Klebekolonnen der Parteien erbitterte Schlägereien in den vom Krieg gezeichneten Städten.
► Die Deutschen hörten gebannt Radio: Wahlkreis für Wahlkreis wurde einzeln ausgezählt. Hochrechnungen gab es noch nicht – es war die Vor-Computer-Zeit.
► Die großen Gegenspieler hießen: Konrad Adenauer (CDU) und Kurt Schumacher (SPD). Das Wort „Kanzlerkandidat“ gab es noch nicht.
Der damals 53 Jahre alte Schumacher war der Nachkriegsvorsitzende der SPD. Er war ein von Wundschmerzen gepeinigter Mann. Im Ersten Weltkrieg hatte er den rechten Arm verloren, 1948 war ihm das linke Bein amputiert worden. Den Wahlabend verbrachte er mit Getreuen in der mit roten Fahnen geschmückten SPD-Zentrale, die sich damals in Hannover in der Odeonstraße befand. Die Genossen löffelten Bouillon mit Ei, als aus den Bezirksverbänden telefonisch die ersten Teilergebnisse eintrafen.
Um 23.40 Uhr unterbrach der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) seine Tanzmusik mit einer Sondermeldung: Schumacher war in Hannover-Süd mit 56 Prozent gewählt worden. Ein SPD-Wahlsieg schien in greifbare Nähe zu rücken.
„Wat soll ich mich verrückt machen…“
300 Kilometer weiter südlich am Rhein: Der frühere Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (CDU) war bereits vor Mitternacht zu Bett gegangen. „Wat soll ich mich vorher verrückt machen…“, murmelte der 73-Jährige.
In der weißen schiefergedeckten Villa am Hang des Rheintals in Rhöndorf bei Bonn, wo sich nach dem Krieg die Väter des Grundgesetzes zum „Parlamentarischen Rat“ versammelt hatten, rasselte um fünf Uhr morgens der Wecker.
Nach dem Aufstehen wählte Adenauer die Nummer des Bonner Büros des „Deutschen Nachrichtendienstes“, Vorläufer der heutigen dpa, um das amtliche Endergebnis zu erfahren: CDU/CSU 31 Prozent, SPD 29,2 Prozent, FDP 11,9 Prozent, KPD 5,7 Prozent.
Mit 139 Mandaten hatten CDU und CSU acht Sitze mehr als die SPD, aber die Union brauchte einen Partner, um regieren zu können. Starke Kräfte in der Union drangen auf eine Koalition mit der SPD, die Adenauer (CDU-Chef in der britischen Zone) unbedingt verhindern wollte.
Himmlische Glocken
Am Sonntag nach der Wahl – es war der 21. August – lud der listige Rheinländer 25 mehr oder minder einflussreiche Unions-Granden, darunter auch ein aufstrebender CSU-Politiker namens Franz Josef Strauß, auf seine sonnige Terrasse.
Nachdem die Herren schnaufend die 58 Stufen hinaufgestiegen waren, ließ der an sich geizige Alte, der die Kinder im Ort lieber mit zähen Rahmbonbons als mit einer Tafel Schokolade abspeiste, ein üppiges Buffet auftragen. Eigenhändig entkorkte Adenauer Spitzengewächse aus seinem Weinkeller. Für den jungen, damals erst 33 Jahre alten CSU–Mann Franz Josef Strauß klangen die Gläser wie „himmlische Glocken“.
Mehrheit ist Mehrheit
Adenauer schwor die Runde auf ein Papier ein, in dem die „eindeutige Bejahung der sozialen Marktwirtschaft im Gegensatz zur sozialistischen Planwirtschaft“ festgeschrieben wurde. Ein Bündnis mit den planwirtschaftlich denkenden Sozialdemokraten war damit ausgeschlossen, eine Koalition mit der FDP schien praktisch besiegelt zu sein.
Die Antwort auf die Frage, wer Kanzler werden solle, gab der listige Rheinländer Adenauer den Herren gleich mit auf den weinseligen Heimweg: „Man hat mich dazu vermocht, mich für die Stellung des Bundeskanzlers zur Verfügung zu stellen.“
Am 15. September 1949 wählte der in Bonn versammelte erste Deutsche Bundestag Konrad Adenauer zum Kanzler – mit einer Stimme Mehrheit, mutmaßlich seiner eigenen. Der polternden Opposition rief er zu: „Wat wollen Se‘ denn, meine Damen und Herren? Mehrheit ist Mehrheit.“
1953: Die Union siegt mit Hetzplakat
Fintenreich hatte es Adenauer betrieben, dass die vor seiner Haustür liegende betuliche Universitätsstadt Bonn an Stelle von Frankfurt/Main Sitz von Regierung und Parlament im Westen des geteilten Deutschlands wurde. Ein der weinseligen Rhöndorfer Runde gegebenes Versprechen, nur für höchstens zwei Jahre als Übergangskanzler zu regieren, war für den mittlerweile 77-Jährigen „Geschwätz von gestern“.
► Am 6. September 1953 stellte sich Adenauer, von der SPD als „Kanzler der Alliierten“ diffamiert, zur Wiederwahl. Es war die erste Bundestagswahl mit richtigen Wahlspots. Die Westdeutschen hatten nun auch eine Zweitstimme für die Landesliste einer Partei.
Mit einem perfiden Hetzplakat („Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“) schürte die Union die tief sitzende Russen-Angst der Westdeutschen. Subkutan sollte das Plakat vor den Sozialdemokraten warnen, die für die Wiedervereinigung eines neutralen Deutschlands und für eine Verständigung mit der damaligen Sowjetunion warben. Überschattet wurde die Wahl vom Volksaufstand im anderen Teil Deutschlands am 17. Juni 1953.
Im Mittelpunkt des Wahlkampfes stand die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Die Wahlbeteiligung erreichte jetzt sogar sensationelle 86 Prozent.
► Kanzler Adenauer, der wie immer früh schlafen gegangen war, ließ sich bei Tagesanbruch telefonisch durch seinen Pressechef Felix von Eckardt informieren: CDU/CSU 45,2 Prozent, SPD 28,8 Prozent, FDP 9,5 Prozent.
Die SPD hatte nach Schumachers Tod erneut die 30 Prozent Marke verfehlt – für den neuen Parteichef Erich Ollenhauer war es die erste schwere Niederlage.
1957: Bundesbürger wählen erstmals per Brief
Die Menschen im Westen spürten: Es ging aufwärts – die Löhne waren seit 1950 um 50 Prozent gestiegen, die Preise nur um 10 Prozent!
„Wohlstand für alle“, die Devise von Adenauers Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, war für immer mehr Bundesbürger kein leeres Versprechen mehr.
Fast noch wichtiger war: Als Fußball-Weltmeister (1954) waren die Deutschen wieder geachtet unter den Nationen!
► Zwei Jahre vor der Wahl am 15. September 1957, die jetzt erstmals auch per Brief möglich war, hatte der CDU-Kanzler in Moskau seinen größten außenpolitischen Triumph errungen: die Heimkehr der noch 10 000 Kriegsgefangenen aus Russland. Adenauer, der mit dem Wahlmotto: „Keine Experimente!“ antrat, war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die Wahlbeteiligung erreichte mit 87,8 Prozent eine neue Rekordmarke, die Union gewann zum ersten und bisher einzigen Mal die absolute Mehrheit: 50,2 Prozent!
Die dritte Bundestagswahl Wahl 1957 war aber auch aus einem anderen Grund eine besondere Wahl: Beim Bundeswahlleiter kam erstmals ein mannshoher IBM-Rechner zum Einsatz. Das elektronische Monstrum mit außen sitzenden Warnlampen konnte das Endergebnis zwar noch nicht „hochrechnen“ (erst ab 1965 möglich), es beschleunigte aber das Addieren der Stimmen ganz erheblich.
Lesen Sie im zweiten Teil der Serie, wie die Wahl 1961 den Anfang vom Ende der Ära Adenauer einläutete.
*Einar Koch, Jahrgang 1951, war von 1992 bis 2003 Leiter der Parlamentsredaktion der „Bild“-Zeitung in Bonn und Berlin, Politik-Chef des Blattes und zuletzt Politischer Chefkorrespondent.