Nord-Stream-Sprengung: Wie die ARD-„Tagesschau“ unkritisch die Sprache der deutschen Behörden übernimmt

Mit Blick auf die Nord-Stream-Sprengung vor zwei Jahren ist bislang so gut wie nichts wirklich belastbar gesichert auf Basis unstrittiger Fakten. Deutsche Mainstream-Medien, allen voran die ARD-„Tagesschau“, übernehmen dennoch unkritisch, was ihnen von der Bundesanwaltschaft und der Regierung als angebliche Faktenlage in den Block diktiert wird. Eine der ganz wenigen Ausnahmen ist die von Verleger Holger Friedrich  herausgegebene „Berliner Zeitung“. In einem bemerkenswerten, leider nur hinter der Bezahlschranke zugänglichen Artikel hinterfragt Autorin Christiane Voges zahlreiche Ungereimtheiten und wundert sich über die naive Leichtgläubigkeit des angeblichen Qualitäts-Journalismus.

Voges stellt eingangs fest: „Viele der Berichte zu angeblichen neuen Erkenntnissen im Falle der gesprengten Nord-Stream-Pipelines erscheinen in wesentlichen Hinsichten fragwürdig, nicht zuletzt die Medienrealität betreffend. Mit Blick auf Versionen wie die der ‚Tagesschau‘ als eine der bundesweit wichtigsten Nachrichtensendungen oder auch wie jene der regional naheliegenden Ostseezeitung bleiben Fragen bestehen – und es kommen neue hinzu. Zugespitzt formuliert: Das jetzt skizzierte Bild der drei Verdächtigen aus der Ukraine deutet auf eine besonders skurrile Verschwörungsannahme. Und an einem geostrategisch zentralen Ereignis samt dessen medialer Darstellung wird deutlich, dass journalistische Medienschaffende oft im wenig professionellen Sinne ‚mittendrin statt nur dabei‘ sein wollen.“

Die Autorin fährt fort: „Wenn wir das Stellen von Fragen als wichtige menschliche Eigenschaft begreifen, bietet das aktuelle Kapitel des Nord-Stream-Dramas gute Gelegenheit, den Zweifel als Produktivkraft nutzbar zu machen für eine aufgeklärtere Gesellschaft.“

 

„Fragen eines lesenden Arbeiters“

Voges, studierte Theaterwissenschaftlerin,  erinnert an Bertolt Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“, das – Ironie der Geschichte – 1935 fast in der Nähe des Sabotage-Ortes in der Ostsee unweit der dänischen Insel Bornholm entstanden war. Seinerzeit im dänischen Exil des großen deutschen Dramatikers als Teil seiner Text-Sammlung „Svendborger Gedichte“. 

Die „Berliner Zeitung“ schreibt dazu: „Es kann als Kritik an etablierter Geschichtsschreibung gelesen werden, die vor allem große Männer als Macher in den Mittelpunkt rückt. Und normale Menschen oft gänzlich ausblendet. Unter anderem fragt Brechts Arbeiter rhetorisch: ‚Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?‘.“

Christiane Voges überträgt Brechts Gedanken in die Gegenwart: „Die patriotischen Taucher aus der Ukraine sollen also die Pipelines gesprengt haben. Sie allein? Hatten sie nicht wenigstens einen Geheimdienst/Machtapparat hinter sich? Bei jener komplexen und spektakulären Aktion in 80 Metern Tiefe auf dem Grunde der Ostsee, deren Aufklärung sich nun schon fast zwei Jahre hinzieht?“

Zwar räumte die „Tagesschau“ auf ihrem Online-Portal am 14. August pseudo-kritisch ein, dass die entscheidende Frage bis heute unbeantwortet geblieben sei – nämlich: „Wer diesen Anschlag in Auftrag gegeben hat…“. https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/nordstream-172.html

Dann aber behauptet der von fünf Autoren verfasste ausführliche Text, den eigenen Recherchen zufolge hätten die deutschen Ermittler um Generalbundesanwalt Jens Rommel in den vergangenen Monaten ausreichend Belege gesammelt, um bereits Anfang Juni (sic!) bei einem Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof einen Haftbefehl gegen einen namentlich bekannten Verdächtigen zu erwirken, den Ukrainer Wolodymyr Z.

Schon im Juni sollen also die deutschen Strafverfolger laut „Tagesschau“ mit einem Europäischen Haftbefehl auf polnische Behördenvertreter zugegangen sein, „in der Hoffnung, dass der Verdächtige festgenommen werden“ kann.

„Die Frage ist, ob Medien und Behörden dem deutschen Interesse dienen“

Die „Berliner Zeitung“ merkt dazu an: „Ob das wirklich in dieser Hoffnung geschah, bleibt jedoch Ansichtssache oder Glaubensfrage. Vielleicht gab/gibt es ja (ganz) andere Hoffnungen der deutschen Behörden in diesem Fall. Womöglich sogar die, dass die ganze Sache weiter im (Ostsee-) Sande verlaufen möge. Journalistisch professionell wäre es, an einer solchen Stelle von einer ‚erklärten‘ oder ‚geäußerten‘ Hoffnung der Behördenvertreter zu texten. Diese Fragwürdigkeit ist keine Kleinigkeit, weil die erschienene Formulierung darauf deutet, dass die fünf ARD-Journalisten in ihrer Sichtweise und Interessenlage ‚dicht dran‘ zu sein scheinen an der Perspektive des hiesigen Staatsapparates. Wie gesagt: ‚mittendrin statt nur dabei‘“, bilanziert Christiane Voges und hat noch weitere Fragen: 

„Fragt sich auch daher, warum das Publikum in Deutschland von diesem ‚Durchbruch‘ erst Mitte August erfuhr, also mehr als zwei Monate später. Wenn etliche Investigativ-Profis von ARD, SZ und Die Zeit an diesem Thema dran waren und sind, mutet es merkwürdig an, dass dieser ‚Durchbruch‘ nicht durch relativ einfaches Nutzen des journalistischen Auskunftsrechtes gegenüber Behörden schon deutlich eher erfahrbar wurde. Die Mittel dafür jedenfalls geben Landespressegesetze und Medienstaatsvertrag allen journalistisch Tätigen an die Hand.“

„Und wenn in einem laufenden Verfahren von höchster öffentlicher Relevanz (es geht immerhin um die bewusste Zerstörung sehr kritischer Infrastruktur Deutschlands und Russlands) ein qualitativ neuer Sachstand (wie das Erwirken eines EU-weiten Haftbefehls durch den Generalbundesanwalt) eintritt, sollte dies die Öffentlichkeit erfahren. Falls das gar nicht oder wie hier mit deutlicher Verspätung geschieht, dürfte gefragt werden, inwiefern Behörden und Medienschaffende ihrer öffentlichen Aufgabe entsprechen, dem Allgemeinwohl zu dienen.“

Viele Spekulationen, die als Wissen verkauft werden

Nach Recherchen von ARD, SZ und Die Zeit gingen die deutschen Ermittler davon aus, dass Wolodymyr Z. zuletzt in einer Ortschaft westlich von Warschau wohnhaft war. Kürzlich soll der Ukrainer dann untergetaucht sein. „Ob er sich nun wieder in der Ukraine aufhält, ist unklar“, hieß es laut „Tagesschau.de“. In einem kurzen Telefonat habe sich Z. überrascht von dem Vorwurf gezeigt. Er habe bestritten, an den Anschlägen auf Nord-Stream beteiligt gewesen zu sein. Die Informationen zu den zwei weiteren Tatverdächtigen würden den neuen Recherchen zufolge unter anderem auf „Hinweisen eines ausländischen Nachrichtendienstes“ beruhen.

Dazu fragt die „Berliner Zeitung“: „ Warum wird hier ganz allgemein und tendenziell beschönigend von einem ‚ausländischen Nachrichtendienst‘ gesprochen? Warum nicht – was sachlicher und gebräuchlicher ist – von einem ‚Geheimdienst‘? Und weshalb wird – bei aller gebotenen Wahrung von Quellenschutz – dessen Verortung so nebulös wie möglich gehalten?“ 

Christiane Voges fasst zusammen: „So wirkt das Ganze hier eher wie einerseits interessengeleitetes, andererseits an gesellschaftlicher Aufklärung desinteressiertes Geraune. Die spätere Formulierung ‚eine gängige Praxis bei der Arbeit von Nachrichtendiensten‘ macht deutlich, dass sich die Journalisten in gewisser Weise mit im Boot sehen – Nachrichten-Profis unter sich. Und der Kurs geht schon klar, ‚gängige Praxis‘ halt.“

FAZIT: Fragen über Fragen! Christiane Voges wundert sich über den angeblichen Qualitätsjournalismus: „Inwiefern meinen die leitmedialen Rechercheprofis zu wissen, wovon ‚die deutschen Ermittler‘ tatsächlich ausgingen? Sie können doch nur wissen, was man sie wissen ließ. Journalistisch redlich wäre, genau das zu publizieren: Versionen von bestimmten Quellen als ebendiese Versionen kenntlich zu machen. Und sie gerade nicht als unbestreitbare Tatsachen (wie zum Beispiel die Angabe des heutigen Wochentages) zu behaupten.“

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