Prof. Dr. Felix Dirsch: Westliches Kriegsnarrativ auf wackligen Beinen

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Felix Dirsch 

Um jeden Krieg ranken sich Versuche, Ursachenforschung zu betreiben. Im Regelfall geht diese Deutung nicht ohne Polemik und Parteinahme vor sich. Die letzte große, allgemein beachtete Interpretation der Hintergründe des Ersten Weltkrieges lieferte der britische Historiker Christopher Clark mit seiner Erklärung, die europäischen Nationen hätten sich gleich Schlafwandlern in das große Schlachtengetümmel gestürzt.

Im Fall des aktuellen Kriegsgeschehens in der Ukraine existieren gleichfalls beliebte Narrative, die den Grund für die Geschehnisse wahlweise dem Bösewicht im Kreml oder dem russischen Großmachtstreben im Allgemeinen zuschreiben. Demnach wollen die Moskauer Machthaber den Zerfall der UdSSR als der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ rückgängig machen.

Diese Motive lassen sich nicht ganz bestreiten, wenn man die Hintergründe für die Ausweitung der Kampfhandlungen 2022 untersucht. Im Kern jedoch sind die schon länger anhaltenden Auseinandersetzungen als geostrategische Konflikte zu sehen. Russland wendet sich gegen seine Degradierung zur bloßen Regionalmacht zwischen den absehbaren Duopolisten China und den USA. Die Ukraine ist aus geopolitischer Sicht für die USA das zum Rammbock instrumentalisierte Mittel, den Rivalen so zu schwächen, dass sein seit zwei Jahrzehnten unübersehbarer Wiederaufstieg gestoppt wird. Der eher vage Begriff des osteuropäischen Herzlandes, der seit Halford J. Mackinders bahnbrechenden Beiträgen als geopolitischer Schlüssel zum Verständnis von Weltherrschaftsplänen gilt, findet im ukrainischen Territorium seine aktuelle Fixierung.

Belege für diese These sind zahlreich. Geostrategische Konstellationen entstehen als Summe langfristiger, besonders naturaler Faktoren. Die nordeuropäische Tiefebene ist unschwer als Russlands offene Flanke auszumachen. Seit Jahrhunderten erweist sich der geographische Riese auf diese Weise verwundbar – von den Einfällen der Schweden über die Invasion von Napoleons Truppen bis zum Angriff Hitlers. Russland versuchte daher stets, den Cordon sanitaire gen Westen zu erweitern; die Nachbarsstaaten (als Nato-Mitglieder) strebten hingegen, nach Osten vorzudringen. Bekannt sind Raketenabwehrsysteme, die die Nato auf rumänischen und polnischen Boden stationierte.

Maßgebliche geostrategisch ausgerichtete Beobachter seit Mackinder haben die Bedeutung der Entwicklungen in Osteuropa stets hervorgehoben. Der einflussreiche Publizist George Friedman schrieb 2009 in seiner Schrift „Die nächsten hundert Jahre“, der Puffer zwischen den Nato-Ländern und Russland habe 1989 2000 Kilometer betragen, heute 300 Kilometer. In den Jahren nach dieser Buchveröffentlichung schrumpfte er weiter. Ziel Russlands werde sein, so Friedman, verlorene „Pufferzonen wiederherzustellen“ und die „Entstehung anti-russischer Bündnisse“, erst recht vor der eigenen Haustür, zu verhindern.

In den 1990er Jahren verfasste Zbigniew Brzezinski seine aussagekräftige Studie „Die einzige Weltmacht“. Der ehemalige Präsidentenberater hatte das „eurasische Schachbrett“ unter neuen historischen Bedingungen untersucht. Den „Verlust der Ukraine“ arbeitete er für das postsowjetische Land als gravierend im Hinblick auf seine eigene politische und ethnische Identität heraus. Nicht nur wesentliche geopolitische Optionen (wie sie sich besonders auf der Insel Krim zeigen) würden so Russland beraubt; weiter lässt ein dauerhaftes Wegbrechen von 52 Millionen Slawen früher oder später die Sezession von kulturell, ethnisch und religiös heterogenen Völkern an der weiten Südgrenze als wahrscheinlich erscheinen. Der Versuch des überwiegend islamischen Tschetscheniens, sich von der russischen Föderation zu lösen, zeigte früh, dass eine solche Stoßrichtung nicht nur auf dem Papier existiert.

Fast 30 Jahre nach Erscheinen dieser Publikation muss Brzezinskis Analyse solcher Abspaltungstendenzen kaum aktualisiert werden. Die vom Westen erhoffte Niederlage Putins dürfte Folgen mit sich bringen, die im Zuge der allgemeinen Kriegstrunkenheit unbeachtet bleiben. Implodiert die Moskauer Zentralgewalt und erhalten zentripetale Kräfte Auftrieb, so sind nicht nur kaskadenartig sich ausbreitende Kriege an der Peripherie zu erwarten; vielmehr wird sich wohl in diesem Fall die Frage stellen, wer die Verfügungsgewalt über die riesigen Atomwaffenbestände des Landes künftig besitzen wird. Die in westlichen Medien omnipräsente Schwarz-Weiß-Malerei wischt derartige Szenarien einfach beiseite. Sie sind aber für den Fortbestand der Menschheit von entscheidender Relevanz.

 

Prof. Dr. Felix Dirsch 

Jahrgang 1967, lehrt Politische Theorie und Philosophie an verschiedenen Universitäten, vornehmlich in Deutschland und Armenien. Daneben ist er publizistisch tätig und als Referent gefragt.

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