Soviel steht fest: Das Bundestagswahlergebnis ist weder Fisch noch Fleisch. Zwei rechnerisch mögliche Dreier-Bündnisse liegen auf dem Tisch: Ampel unter SPD-Führung oder Jamaika unter Unionsführung. „Grüne“ und FDP sind in beiden Fällen die Kanzlermacher. Deutschland steht ein neues Koalitionsgewürge womöglich bis ins kommende Jahr bevor. Die Neujahrsansprache würde dann wieder Angela Merkel (CDU) halten. Sie hätte dann, Stichtag 18. Dezember, sogar die Amtszeit von Helmut Kohl überboten. Selbst der Mainstream sieht den Ausgang der Bundestagswahl reichlich desillusioniert.
Die ‚Süddeutsche Zeitung‛ schaut dabei zunächst auf Olaf Scholz (SPD): „Bis vor wenigen Wochen schien die SPD im 15-Prozent-Keller gefangen zu sein. Dann unterliefen Annalena Baerbock und Armin Laschet jene Fehler, die viele Wählerinnen und Wähler zu der Überlegung brachten: Wollen wir uns dann nicht doch lieber von Olaf Scholz regieren lassen?“
Das oberpfälzische Regionalblatt „Der neue Tag“ aus Weiden wird deutlicher: „Scholz hat schlicht und einfach weniger falsch gemacht als seine beiden Haupt-Kontrahenten. Damit ist er für viele Wählerinnen und Wähler aus der politischen Mitte als kleinster gemeinsamer Nenner übriggeblieben. Oder, weniger charmant ausgedrückt: als das kleinere Übel.“
„Die Union ist im Eimer“, bilanziert die ‚Welt‛ aus dem Springer-Verlag und fährt schonungslos fort: „Nach einem beschämend schlechten Wahlkampf mit einem liebenswert unglücklichen Kandidaten und einer verunsicherten Basis muss die Union die Konsequenzen aus dem personellen und programmatischen Elend ziehen.“
Die linksextreme ‚tageszeitung‛ (Berlin) wendet sich den Ökosozialisten zu und resümiert: „Die Grünen haben ihr Ziel verfehlt, das Kanzlerinnenamt wieder in die Hände einer Frau zu geben. Das Grünen-Ergebnis muss enttäuschen.“
Für das in Düsseldorf erscheinende ‚Handelsblatt‛ sind alle Fragen offen: „Die SPD wird versuchen, der FDP ein Angebot zu machen, das sie nicht ablehnen kann. Laschet wiederum muss die Grünen überzeugen, dass sie bei ihm besser aufgehoben sind als bei den Sozialdemokraten. Sein Balanceakt wird schwieriger sein als der von Scholz. Laschet darf den Grünen nur so viel bieten, dass die FDP nicht abwinkt. Es muss aber so viel sein, dass die Grünen mit ihm und der FDP regieren wollen.“
„Ampel oder Jamaika?“ – diese Frage stellt sich auch der „Kölner Stadt-Anzeiger“ und sieht auf Deutschland eine Regierung des kleinsten politischen Nenners zukommen: „Auf dem langen Weg dahin kommt es für die Verhandlungsführer auf die Kunst des Zugeständnisses, des Kompromisses und der Gesichtswahrung an. Der König der Sondierer wird am Ende auch der Kanzler sein.“
Die linkssozialistische ‚Frankfurter Rundschau‛ ruft zu folgendem Gedankenspiel auf: „Da es praktisch unmöglich ist, für Koalitionen mit klarem inhaltlichen Profil parlamentarische Mehrheiten zu finden – warum redet dann niemand über eine Minderheitsregierung? Der ängstliche Verzicht auf diese Option stellt heute einen Anachronismus dar. Wie wäre es, wenn sich dem neuen Bundestag einfach zwei Kanzlerkandidaten zu Wahl stellten? Der Sieger müsste dann für seine Projekte von Fall zu Fall eine Mehrheit suchen.“
„Das freie Mandat ist nur noch eine Fiktion“
Der liberal-konservative Publizist Roland Tichy sorgt sich grundsätzlich um die Freiheit der sogenannten Volksvertreter im noch einmal größer gewordenen Parlament: „Im Bundestag sind die Abgeordneten der Koalition gezwungen, hirnlos für Regierungsvorlagen zu stimmen. Damit degenerierte der Bundestag zum Volkskongress, der abnickt, was der Regierung gefällt. Es ist das zweitgrößte Parlament der Welt mit dem geringsten Entscheidungsspielraum. Das Freie Mandat ist nur noch eine Fiktion, so wie unter Merkel das Grundgesetz, eine Art Verfassung, uminterpretiert, verändert, verwässert wurde bis zur faktischen Unkenntlichkeit trotz scheinbar ähnlicher Worte.“
Der Berliner ‚Tagesspiegel‛ merkt an: „Zu Beginn des Wahlkampfes konnte man von einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen beiden Parteien ausgehen. Die Grünen sahen sich schon als neue Öko-Volkspartei und die Union glaubte, nach 16 Jahren Angela Merkel, das Kanzleramt einfach vererbt zu bekommen. Beides entpuppte sich als das, was es von Beginn an war: eine Illusion […] aber die beiden größeren Parteien hängen nun am Tropf der kleineren Parteien. Und diese Machtverschiebung hat FDP-Chef Christian Lindner am Wahlabend schon deutlich gemacht, indem er erstmal den Grünen Gespräche angeboten hat, bevor mit SPD oder Union gesprochen werde. Über Koch oder Kellner einer künftigen Koalition mag das noch nichts sagen. Aber sehr wohl darüber, wer bestimmt, was überhaupt auf dem Speiseplan steht.“
Nun ein Blick ins Ausland
Die sich vom deutschen Mainstream wohltuend abhebende ‚Neue Zürcher Zeitung‛ kann dem Wahlausgang wenigstens etwas Positives abgewinnen. Unter der Überschrift „Die beste Nachricht: Eine rot-grün-dunkelrote Regierung bleibt den Deutschen erspart“ führt das Schweizer Leitmedium aus: „Das Parteienbündnis, das Berlin seit fünf Jahren in Grund und Boden regiert, wird nicht auf den Rest der Republik übertragen werden können – allen Linksruck-Träumereien zum Trotz. Das ist ein Grund zur Freude – auch wenn noch völlig offen ist, was stattdessen zustande kommt […] Denn so viel steht fest: Annalena Baerbocks Traum vom Kanzleramt mag implodiert sein, aber das Ergebnis ihrer Partei ist laut den bisherigen Hochrechnungen so stark wie nie. Ihre Parteibasis wird entsprechende Erwartungen an sie und Robert Habeck haben, einen Koalitionsvertrag auszuhandeln, der so grün ist wie keiner zuvor“, befürchtet die „NZZ“.