Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland ein tief gespaltenes Land
Am 9. November 1989 hörte ich in den Spätnachrichten die historischen Worte von Günter Schabowski, mit denen der Sprecher des SED-Politbüros die neue Reisefreiheit verkündete. Mein Vater und ich lagen uns mit feuchten Augen in den Armen. Neben der Geburt meiner vier Kinder waren diese Minuten der schönste Moment in meinem Leben.
Das Hauptmotiv des friedlichen Bürgeraufstandes in der DDR war weniger ein zu kurz gekommenes Bedürfnis nach Brot und Spielen. Natürlich ging es auch um eine erhoffte Wohlstandssteigerung, die den fähigen und fleißigen Menschen im Osten von einer sozialistischen Misswirtschaft verwehrt wurde. Was die Bürger aber vor allem auf die Straße trieb, war die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und politischer Selbstbestimmung sowie der Unmut über eine politische Klasse, die ihre Unfähigkeit zur Lösung der Probleme mit Bespitzelung, Gängelung, Lüge und hohler Propaganda zu kompensieren suchte.
Bei den Protesten mischte sich in den Wunsch nach Freiheit auch zunehmend der Ruf nach der nationalen Einheit. Auf den Demonstrationen sah man Transparente mit der Aufschrift »Wir sind ein Volk« und hörte die Menge skandieren: »Deutschland einig Vaterland!« In diesem historischen Moment wurde das ganze Volk – von einigen wenigen Betonköpfen beiderseits der Grenze abgesehen – von einem nationalen Impuls erfasst: Die Deutschen in der DDR und die Deutschen in der BRD wollten nach 40 Jahren Teilung wieder in einem Staat zusammenleben und gemeinsam ihre Zukunft gestalten.
Der Parteipolitiker Helmut Kohl hatte noch im Herbst 1988 eine Wiedervereinigung als »blühenden Unsinn« bezeichnet. Ein Wiedervereinigungsangebot von Gorbatschow lehnte er schnöde ab und kungelte lieber mit Honecker um die Rettung der bankrotten DDR. Nach der Wiedervereinigung war Kohl die Europäische Union wichtiger als die nationale Einheit und Wohlfahrt. Das war für viele nicht gleich offensichtlich, denn der CDU-Parteiführer versprach ihnen »blühende Landschaften«, die er »aus der Portokasse bezahlen« wollte.
Dass das nur ein PR-Gag zum Zwecke des Wahlkampfs gewesen war, merkten die Menschen in den neuen Bundesländern erst, als sich die desaströsen Folgen der Vereinigungspolitik auftaten: Trotz der eindringlichen Warnungen von Fachleuten wurde die DDR-Industrie binnen weniger Monate plattgemacht und ein Millionenheer von Arbeitslosen geschaffen, die Deutsche Mark dem windelweichen Euro geopfert und das Land für Millionen Immigranten geöffnet, um eine neue Gemeinschaft der Deutschen zu verhindern. Am Ende stempelte man alle, die sich über diesen Verrat an den Landsleuten im Osten empörten, zu undankbaren »Motzkis« ab.
Tatsache bleibt, dass die Deutschen in der DDR – und nicht die im Westen – eine demokratische Revolution geschafft haben. Und viele von ihnen wundern sich, dass heute wieder eine selbstgerechte Obrigkeit sie gängelt, ihre Meinungsfreiheit beschränkt und den wirtschaftlichen Wohlstand aufs Spiel setzt.
Dabei war die Kohl’sche Perspektive »blühender Landschaften« gar nicht unrealistisch: Die Aufbruchsstimmung im Land war vorhanden, die Bürger waren zu Anstrengungen und Opfern bereit, und finanzierbar wäre die Sanierung des Ostens auch gewesen, wenn man die vielen Milliarden, die in aller Welt verplempert und im Brüsseler Moloch versenkt wurden, zumindest temporär für den Aufbau der neuen Bundesländer umgelenkt hätte. Es fehlte nicht an der Bereitschaft des fröhlich vereinigten Volkes, es fehlte an einer verantwortlichen politischen Führung.
Was hätte die neue »Berliner Republik« alles erreichen können, wenn damals fähige, willensstarke und dem Wohle der eigenen Nation verpflichtete Politiker das Ruder in den Händen gehabt hätten! Solche Persönlichkeiten bereitzustellen, dazu war das westdeutsche Parteienestablishment jedoch weder bereit noch in der Lage. Das staatsmännische Gebaren von Kohl und Genscher in der Wendezeit war letztlich Pose. Nationale Selbstbestimmung und Erneuerung standen bei ihnen nicht auf der Agenda. Die deutsche Einheit war fest in der Hand von Klinkenputzern. Und so wurde der nationale Impuls der Wendezeit vorsätzlich zerstört. Unter diesen Bedingungen war es den postkommunistischen Wendehälsen der SED-Kader ein Leichtes, sich in das System des »Klassenfeindes« zu integrieren. Die Genossen von einst präsentieren sich als die »Musterdemokraten« von heute.
Diese Kumpanei erleben wir heute live auf der bundesdeutschen politischen Bühne, wo selbst die ehemals konservative Union mittlerweile mit der Nachfolgepartei der SED schäkert. Von der untergehenden DDR schwappte auch der »Antifaschismus« im Gewande eines fanatischen »Kampfes gegen rechts« in die vergrößerte BRD hinüber, um die letzten patriotischen Regungen in der Bevölkerung zu ersticken. Es ist schon grotesk: Genau das, was die Mehrheit der Menschen im Osten mit der DDR positiv verband, nämlich soziale und innere Sicherheit, Solidarität und Gemeinschaftlichkeit, das ging in dem vereinigten Deutschland verloren. Und das, was sie als negativ empfanden, nämlich Stasi und Überwachung, realitätsverweigernde Polit-Apparatschiks und Staatspropaganda, feiert heute unter linksliberalem Vorzeichen im Merkel-Regime fröhliche Urständ.
Viele ehemalige »1989er« sind entsetzt über den steigenden Gesinnungs- und Konformitätsdruck im Land, sehen mit Sorge die Einheitsmeinung der Leitmedien und die kaum noch verdeckte Zensur im Internet. Diejenigen, die sich der vorgeschriebenen Selbstauflösung im kosmopolitischen Nirwana widersetzen – vornehmlich im Osten der Republik –, werden als »Dunkeldeutsche« abqualifiziert und als »Pack« oder »Nazis« beschimpft.
Zieht man nach 30 Jahren Wiedervereinigung eine nüchterne Bilanz, so muss man trotz der beachtlichen Aufbauleistungen feststellen: Statt eines gemeinsamen Neuanfangs in Einheit, Freiheit und Wohlstand, wie es die Deutschen in Ost und West mehrheitlich gewünscht hatten, wurde die marode DDR der BRD quasi einverleibt und in den sich abzeichnenden globalistischen Abwärtsstrudel mit hineingezogen. Und statt neuer Gemeinschaft kam die Zerbröselung der multikulturellen Gesellschaft. Heute ist das Land tief gespalten und von einer stickig-repressiven Atmosphäre durchzogen. Der Staats- und Rechtszerfall schreitet fort und die wirtschaftlichen Prognosen sind düster. Dieser deprimierende Befund sollte uns aber weder zu der egoistischen Parole »Nach uns die Sintflut!« noch zu einem destruktiven politischen Exotismus hinreißen lassen. Der Bürgeraufstand von 1989 hat gezeigt, dass sich ein Volk auf friedliche und demokratische Weise erfolgreich gegen eine unfähige politische Klasse wehren kann. Der Geist des 9. November, nicht des 3. Oktober, sollte uns daher Inspiration sein.
Knüpfen wir an die fruchtbaren Impulse der Wendezeit an, fordern wir Einheit, Freiheit und Wohlstand für unser Land und zeigen wir den volksverachtenden Machthabern die Rote Karte.
Björn Höcke (47), Gymnasiallehrer, ist einer von zwei Sprechern der AfD Thüringen und seit der Landtagswahl in Thüringen 2014 Fraktionsvorsitzender der AfD im Thüringer Landtag. Bei der Landtagswahl in Thüringen 2019, in der er erneut als Spitzenkandidat der AfD antrat, wurde die AfD unter seiner Führung die zweitstärkste Kraf