Dieser Rauswurf war ein Ritterschlag: Nach den Kreis- und Landesschiedsgerichten in Berlin hat jetzt auch das Bundesschiedsgericht der SPD den Parteiausschluss von Thilo Sarrazin bestätigt. Über elf Jahre hat die SPD gebraucht, um eines ihrer angesehensten und geradlinigsten Mitglieder loszuwerden, einen politischen Analytiker, Sachbuchautor und Debattenanstoßer von Format.
Elf Jahre, in denen die Wahlergebnisse und Umfragewerte der SPD im Sturzflug in den Keller gerauscht sind. Sarrazins Parteiausschluss ist eine dieser »Niederlagen«, bei denen der vermeintlich Unterlegene als eigentlicher Sieger vom Platz geht, während die, die sich für die »Gewinner« halten, als törichte Narren dastehen.
Denn nun ist es amtlich: Die SPD erträgt auf allen Ebenen keine selbstdenkenden unabhängigen Köpfe mehr, die – statt ideologisch verquaste Phrasen zu blubbern – die Fakten und die Lage nüchtern untersuchen und durchdenken und daraus politische Strategien abzuleiten versuchen.
Oder, wie es Thilo Sarrazins Ehefrau Ursula ausdrückt, die nach dieser Farce ihr vor mehr als vierzig Jahren erworbenes Parteibuch den »Genossen« gleich hinterherwarf: Die »einstige große Volkspartei SPD mutiert zur Sekte«, in der man »die brennenden Probleme der Gegenwart, Migration und Islam, nicht mehr offen diskutieren darf«.
Die Sarrazins tun eben dies aus Überzeugung und mit Leidenschaft. Thilo Sarrazin, der frühere Berliner Finanzsenator, mit bislang fünf penibel recherchierten und grundsoliden Sachbüchern, die er seit 2010 im Zwei-Jahres-Takt veröffentlicht hat.
Auf den migrationskritischen Bestseller »Deutschland schafft sich ab«, der vor einem Jahrzehnt eine intensive Debatte ausgelöst und das politische Bewusstsein in der Republik aufgerüttelt hatte, folgte mit »Europa braucht den Euro nicht« der nächste Mythenzerstörer, darauf »Der neue Tugendterror« als Generalabrechnung mit der politischen Korrektheit, eine Zusammenschau über das ideologiepolitische »Wunschdenken« und 2018 schließlich »Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht«.
Das erste Buch kostete Sarrazin seinen Direktorenposten bei der Bundesbank, das letztgenannte wurde jetzt zum Vorwand für seinen Rauswurf. Sarrazin besteht kühl und ungerührt darauf, man möge ihm doch nachweisen, wo er etwas Falsches oder Strafwürdiges sagt. Geschafft hat das bislang noch keiner. Sein nächstes Buch, das sechste, erscheint am 31. August: »Der Staat an seinen Grenzen: Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart.« Auch dieses Buch werden die Obergenossen wieder nicht verstehen – so viel steht jetzt schon fest.
Ursula Sarrazin hat sich ebenfalls immer wieder furchtlos in Debatten eingemischt. Aus der Erfahrung von fast vierzig Jahren als Lehrerin prangerte sie Disziplinlosigkeit und schulischen Leistungsverfall in TV-Auftritten und Interviews an, eckte damit ein ums andere Mal bei bequemen Kultusbürokraten und Helikoptereltern an und schrieb auch ein Buch über ihre Erfahrungen.
Beide, Thilo und Ursula Sarrazin, stehen für einen Typus, den die SPD von heute schlicht nicht mehr erträgt: Den gestandenen Sozialdemokraten alten Stils – Ursula Sarrazin ist Tochter des langjährigen Gewerkschaftschefs Ernst Breit –, der auf der Seite der ganz normalen kleinen Leute steht, die sich etwas aufbauen und erarbeiten wollen und von der Politik nicht Almosen und Bevormundung erwarten, sondern dass sie ihnen Hindernisse aus dem Weg räumt, die ihnen beim Aufstieg aus eigener Leistung im Weg stehen.
In der Saskia-Kevin-Hubertus-SPD von heute, die im grün-linken Wahn dem Industriearbeiter den Arbeitsplatz wegnehmen und das Autofahren verleiden will, die radikale Minderheiten, Gender-Sektierer und »Antifa«-Schläger umschmeichelt und vor Islamisten im Staub liegt, aber Normalbürger als »Idioten« beschimpft, müssen die Sarrazins wie Exoten wirken: Sie sind, was die SPD mal war und nicht mehr sein will.
Falls später mal einer fragt, wie das damals so war, als die SPD sich selbst abgeschafft und die politische Klasse das ganze Land ruiniert hat, wird man zu Sarrazins Büchern greifen, um zu verstehen, was da abging. Esken, Kühnert, Heil – und wie sie alle heißen – werden da schon längst vergessen sein.