Was heute am meisten erstaunt, ist die Ruhe, mit der einschneidende rechtliche Änderungen von der Gesellschaft, von der oft selbst ernannten geistigen Elite, von Medien und Politik quittiert werden. Dabei ist die Erosion der Demokratie nicht zu übersehen. Anstatt die Willensbildung in hergebrachter Weise, damit oft langsam aber eben ausgleichend, zu schützen, begegnen uns gerade in letzter Zeit mit den UN-Richtlinien, mit EU-Verordnungen und »soft law« genannten Gewohnheitsrechten und ihrer Herunterdeklination – bis zur Aushebelung nationalen Rechts – tief undemokratische Werkzeuge einer ideologischen Politik. Globalisierung und damit multiethnische Gesellschaften sollen in kurzer Zeit in die Staaten hineingeprügelt werden, alternativlos und wenn notwendig unter Ausschaltung von Zweifel und Kritik. Der Souverän, das Volk, wird nicht gefragt – weil es oft im Unklaren gelassen wird.
Allerlei »Notstände«
Mit Worten beginnt es. Etliche Städte hierzulande haben bereits den »Klimanotstand« erklärt, in der letzten Woche folgte der Stadtrat von Dresden mit der Konstatierung eines »Nazinotstandes«. Nun könnte man meinen, gerade mit dem Wort »Notstand« wäre ein sensibler Umgang angebracht. Notstandsgesetze führten von Weimar direkt in die Nazi-Diktatur, das berüchtigtste war das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, offiziell das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« im Nachgang des Reichstagsbrandes. Danach benötigte die Reichsregierung das Parlament nur noch zur Inszenierung von rudimentären demokratischen Ritualen, für die Mitwirkung an Gesetzen war es obsolet geworden.
Auch heute hat sich verfassungs- und zivilrechtlich an der Absicht von Notstandsfeststellungen nichts geändert. In der Regel hat dies dann zur Folge, dass die öffentliche Gewalt auf ihre Bindung an Gesetz und Recht insoweit verzichten kann, wie sie es zur Bekämpfung des Notstandes für erforderlich hält. Wikipedia sagt dazu: »In den demokratischen Ländern bedeutet der Notstand in der Regel die Verkürzung des Rechtsschutzes gegen hoheitliche Maßnahmen sowie Zurückdrängung von längere Zeit in Anspruch nehmenden behördlichen oder legislativen Verfahren.«
Notstand ist damit ein Zustand gegenwärtiger Gefahr für rechtlich geschützte Interessen, deren Abwendung nur auf Kosten fremder Interessen möglich ist.
Verlust fundamentaler Freiheitsrechte
Gemäß §904 BGB wird eine Gefahr abgewehrt, indem eine fremde Sache dafür verwendet wird. Der Eigentümer muss dies dulden, man bezeichnet dies als Aufopferung. Wir ahnen, was hier vorbereitet wird. Die Nutzung von privaten Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor, das Bewohnen von mehr als einer noch festzulegenden Anzahl von Quadratmetern Wohnraum, die Heizung mit fossilen Energieträgern, die Erhebung von annähernd kostendeckenden oder gar renditeorientierten Mieten, die freie Wahl meines Wohnumfeldes, die Mitbestimmung bei den Bildungsinhalten meiner Kinder, der mögliche Einspruch gegen den Windpark vor meinem Haus oder die Inanspruchnahme von Meinungsfreiheit und Bürgerrechten – dies alles und noch viel mehr kann unter Umständen wegfallen. Im Sinne einer guten Sache natürlich nur! Wer kann schon gegen die Rettung der Welt sein?
Das dritte sozialistische Gesellschaftsexperiment
Der Notstand gleicht damit einem Ausnahmezustand, aber wenn man den Frosch langsam kocht, lebt er noch eine Weile. Ähnlich ist es mit der Demokratie, ihr Verlust ist anfänglich kaum wahrnehmbar, der Übergang zum Totalitarismus ist fließend. Deutschland steht damit vor dem dritten linken Gesellschaftsexperiment in einhundert Jahren. Das berühmte Böckenförde-Diktum hat es zwar in die Rechtsgeschichte, aber eben nicht in den täglichen Konsens politischen Handelns geschafft: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«
Mir fällt das Gleichnis von Bertolt Brecht ein, vielleicht meinte er ja auch den immer wieder erklärten Krieg gegen das eigene Volk, gegen Aufklärung und Verstand. Wenn nicht vordergründig, so würde er – selbstständiges Denken über alle Maßen schätzend – diese Weiterung verstehen: »Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr zu finden.«
Hier und heute, in Deutschland und Europa, hat sich die Spannung durch angeblich alternativlose Alleingänge im Regierungshandeln und – damit verbunden – einem fast totalen Verlust offener Debatten zu einer Situation verdichtet, die zwangsläufig Raum für politische Alternativen eröffnen musste.
Hans-Jürgen Papier konstatierte, dass »die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit noch nie so tief wie derzeit« sei.
»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« So hieß der erste Satz aus der berühmt-berüchtigten »Politischen Theologie« von Carl Schmitt. Das war 1922. Als heutige Illustration sei an dieser Stelle die Begründung des Dresdner »Nazinotstandes« angeführt. Mit Hinweis auf den Lübcke-Tod und das jüngste Verbrechen in Halle werden Rechtfertigungen bemüht, die angesichts der noch in den Ermittlungen steckenden und nicht rechtskräftig verurteilten Taten irreführend und verfassungswidrig sind. Warum? Weil man es kann, leider ohne Rücksicht auf Verluste.
Ganz verwegen wird die Selbstermächtigung und der Wunsch nach Kontrolle, wenn der Verfassungsschutz wie zu finstersten Zeiten Telefone zur Bürgerdenunziation schaltet. Die abgebildete Aufforderung hat allerdings bisher kaum für Empörung gesorgt. Man kann nur hoffen, dass die tausendfache Sorge um rechtsdrehende Milchsäure im Joghurt die Blitzmädchen so beschäftigt, dass der Nachbar mit dem beneidenswert großen Auto und seine beiden Jungs, die er angeblich im eigenen Bürgerbräukeller versteckt, nicht zur Anzeige gebracht werden können. Auch wenn der Nachbar schon manchmal »Neger« gesagt haben soll.
Der Tatbestand der »Hassrede« ist auch deswegen bewusst unbestimmt, weil man erkannt hat, mit Verleumdung, übler Nachrede, Beleidigung oder sogar Volksverhetzung dem freien Denken und Argumentieren nicht beizukommen.
Wenn sich aber Nachbarn nun gegenseitig anzeigen können, sogar anonym und damit für den Denunzianten folgenlos, haben die überlebenden Stasi-Spitzel, SED-Kreisräte und andere rote Socken Thüringens und anderswo (bis zu 17.000 sind ja noch im Verwaltungsgeschäft dieser Republik!) viel erreicht.
Zunehmende Repression angesichts von Staatsversagen
Fraglich ist nur, ob auch schon parteiinterne Absetzbewegungen wie die von Norbert Röttgen (CDU) mit diesem Gesetz verfolgt werden können. In einem Artikel der ›New York Times‹ wird er mit den Worten zitiert: »Deutschland ist zurzeit ein Totalausfall. Ich kann keine Europa-Politik erkennen, der Außenminister ist ein Ausfall, die Kanzlerin weiß das alles, aber sie tut nichts.« Röttgen sprach weiter von einem »Zusammenbruch von Kompetenz und Energie«.
Genau das haben andere auch beobachtet. Ob aber die Installation weiterer Repressionsapparate darauf eine Antwort ist, sollte der verstehende Blick in unsere Geschichte erweisen.
Uwe Tellkamp weiß es schon: »Das Volk ist nicht links!«
Matthias Moosdorf
Matthias Moosdorf, geb. 1965 in Leipzig, Musiker u. a. im Leipziger Streichquartett, Konzerte in über 65 Ländern, mehr als 120 CD-Veröffentlichungen, 5 ECHO-Klassik-Preise, Texte und Bücher zur Musik u. a. bei Bärenreiter, 2008–2013 Gastprofessor an der Gedai-University of Arts, Tokyo, Gründung mehrerer Kammermusik-Festivals, Gesprächspartner zu Musik und Politik im Radio, seit 2016 auch Politikberatung und Publizistik, arbeitet für die AfD im Deutschen Bundest