Wiederholung von Geschichte – wirklich nur eine Farce? Ein Kommentar von Matthias Moosdorf

Das Rauschen im Blätterwald war erwartbar wie ein Reflex: Die AfD trüge angeblich eine Mitschuld an den Morden in Halle. Urheberschaft, geistige Mittäterschaft, stille Duldung, heimliche Freude – kein Wunsch erscheint unpassend genug für das, was angeblich ein Tabu »der demokratischen Kräfte in diesem Land« in jeder gesellschaftlichen Debatte sein soll.
»Du sollst nicht instrumentalisieren!« Dabei ist es so praktisch: Wahlergebnisse im Osten erklären, mit dem Finger auf andere zeigen, Verantwortung ablehnen und dem Mitbewerber zuschieben. Den Versuch ist es wert. Worum geht es?
Das Verbrechen eines irren Hallenser Radikalen fand nicht nur an Jom-Kippur-Feiertag statt. Seine Opfer waren letztlich zufällig im Wege stehende Passanten. Eine verabscheuungswürdige Tat, sie steht Gott sei Dank in unserem Lande singulär und außerhalb jeder Begründbarkeit.
Ihre umgehende Verwurstung in die gesellschaftliche Kontroverse ist so geschmacklos wie bezeichnend, zugleich ein Indiz bisher undenkbarer politisch argumentativer Armut.
30 Jahre nach dem Fall der Mauer ist der Rahmen ein ganz anderer. Seine (Um-) Deutung beginnt damit, dass auch in der DDR jeder Andersdenkende, vom Zweifelnden über den Bürgerrechtler bis zum politischen Dissidenten, mit den Nazis paktiert haben soll. »Unterstützung des faschistischen Klassenfeindes« hieß der kommode Vorwurf. Er passte immer, denn wenn der Staat das Gute war, musste Kritik an ihm verfolgt oder in den Dreck getreten werden. Wir erinnern uns daran, was Peter Sloterdijk über das Reframing der Geschichte gesagt hat: »Das massivste ideologische Manöver des Jahrhunderts bestand ja darin, dass der linke Faschismus nach 1945 den rechten lauthals anklagte, um ja als dessen Opponent zu gelten. In Wahrheit ging es immer nur um Selbstamnestie. Je mehr die Unverzeihlichkeit der Untaten von rechts exponiert wurde, desto mehr verschwanden die der Linken aus der Sichtlinie.« (2005)
Es geht also nicht um Relativierung, sondern das ganze Argumentationsgebäude muss jedes Mal vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden. Die aktuelle Debattenkultur, sie wird auch vom Bundespräsidenten als »Spaltung der Gesellschaft« diagnostiziert, eine Spaltung, die sich in vielen Familien, Arbeitskollektiven, auch in der EU und in transnationalen Beziehungen wiederfindet, ist kein Produkt der AfD. Sie ist die Reaktion großer Teile der Bevölkerung auf ideologische Bevormundung. Migration, Atomausstieg, Energiewende, Russlandsanktionen, das Verhältnis zu den USA, Euro-Rettungspolitik u. v. a. sind keine alternativlosen Wettererscheinungen. Man kann auch konstatieren, dass der Widerspruch zu den teilweise fachfremd und im Irrwitz falscher Narrative durchgepeitschten Veränderungen geradezu herausgefordert wird – gleichen sie doch mitunter Experimenten an lebenden Menschen und ihrer Zukunft. Entscheidend ist – und da ist der Rückblick in die DDR sehr hilfreich –, wie mit der Meinungsfreiheit, besonders mit der des Andersdenkenden, umgegangen wurde und heute wird. Finden Argumente überhaupt Gehör oder wird die Person schon vorher diskreditiert? Wenn Gaststätten pauschal den Mitgliedern einer Partei den Tisch verweigern, wenn Angestellte ihren Job verlieren, weil sie mit dem »falschen« Politiker beim Mittagessen fotografiert werden, wenn bis zu 17.000 ehemalige Stasimitarbeiter in teilweise regierungsamtlich subventionierten Vereinen wie der Amadeo Antonio Stiftung ihre zersetzenden Fähigkeiten weiterpflegen dürfen, dann ist etwas faul im Staate. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat in einer Studie unlängst zusammengefasst, dass »das Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit selbst ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Grundordnung ist und […] sich die wehrhafte Demokratie [hier] »gegen sich selbst« wendet«. (WD 3 – 3000 – 193/15)
Es gibt in Europa leider überall Gründe, den wachsenden Antisemitismus zu beklagen. Aber lassen wir Michael Wolfssohn sprechen: »Wenn ich mich in meinem jüdischen Bekanntenkreis umhöre, dann sagen alle das Gleiche: Gewalt gegen Juden geht ausschließlich von Muslimen aus.« Und weiter: »Ich kenne viele Juden, die auswandern wollen oder mit dem Gedanken spielen. Die sind deutlich jünger als ich und sagen, dass sie ihrer Kinder wegen nach Israel ziehen. Andere erzählen, dass sie sie nicht mehr in öffentlichen Kindergärten und Schulen anmelden. Aus Angst vor Prügel und Mobbing. Die Bedrohung kommt nicht aus Familien, in denen die Eltern AfD wählen – eine Partei, die ich entschieden ablehne. Sie kommt aus muslimischen Familien.« (›NZZ‹, 27.2.2018)
27.000 Juden sind nach Angaben der Jewish Agency in den vergangenen fünf Jahren aus Frankreich nach Israel ausgewandert – in den fünf Jahren davor waren es weniger als 10.000. Vor dem Brandenburger Tor werden regelmäßig israelische Flaggen verbrannt, beim jährlich stattfindenden Al-Quds-Marsch rufen Hunderte dazu auf, »die Juden zurück ins Meer zu treiben«. Auch Hitlergrüße werden gezeigt, doch die Polizei schreitet fast nie ein.
Im Europaparlament hat der Antisemitismus längst wieder einen parlamentarischen Arm, dort assoziieren Teile der Linken, Grünen, aber auch Sozialdemokraten in ihrer immer fundamentaler werdenden Kapitalismuskritik das jüdische Unternehmertum pauschal als willkommenes Feindbild.
Wer genau hinschaut, findet auf jeder dritten linken Webpräsenz einen weiteren Aspekt, wie nämlich Studentenbewegung und Marxismus den Antisemitismus wieder hoffähig machten. Getreu den mitunter kruden Erkenntnissen von Karl Marx wird auch nach dem Fall der Mauer weiter Klassenkampf studiert: »Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.« Und weiter: »Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element (…). Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.« (K. Marx, »Zur Judenfrage«)
Der für den 4. Dezember 2018 durch die von der GUE/NGL-Fraktion im Europaparlament geplanten Veranstaltung »Boycott, divestment and sanctions to Israel: achievements and challenges« haben zwar auch Teile der Linken widersprochen. Dass es überhaupt zu einem solchen Antrag kommen konnte, ist jedoch bezeichnend. Bekanntlich finanziert die EU seit Jahren mit großen Geldzahlungen Schulen im Westjordanland und in Gaza, die nach Selbstmordattentätern benannt sind und in denen der Hass auf Israel die einzige Bildungskonstante ist. Die zusammengefasste Formel der Linken dafür: »Der Antisemitismus (ist) seinem Wesen nach antikapitalistisch.«
Nikolaus Fest (AfD) war als MdEP in der Diskussion vor Ort und bemerkte dazu: »Wohl aus diesem Grunde versuchen Linke seit einigen Jahren, den Holocaust zu einem allgemeinen Signet des unübersteigbar Bösen zu machen, den Begriff gleichsam zu entjuden. ›Holocaust‹ steht aus ihrer Sicht für jede planmäßige Verfolgung von Opfergruppen, ob LGBT, Behinderte, Farbige, Flüchtlinge oder, besonders lachhaft, Muslime. Ausgenommen ist lediglich die systematische Vernichtung von Christen und Weißen, sei es in der arabischen Welt, in Simbabwe oder Südafrika.«
Ein von Fest im Plenum eingebrachter Ergänzungsvorschlag, der ausdrücklich der Juden gedachte, wurde von allen deutschen Grünen, Linken, Sozialdemokraten und der Mehrheit der Union abgelehnt.
Bei allen Klima-Diskussionen wird also hier eine wichtige, vielleicht die wichtigste überhaupt, bewusst umgelogen. Das gesellschaftliche Klima ist vergiftet, weil eine kleine entschlossene Gruppe den Diskurs sowie seine Grenzen so vorgibt, dass andere Meinungen auch an Universitäten manchmal nur noch unter Polizeischutz diskutiert werden können.
Zum Schluss doch noch eine Relativierung. Nach dem Angriff auf Polizisten in Paris hat Präsident Macron einen »rastlosen Kampf« gegen den islamistischen Terrorismus versprochen. Er rief die ganze Nation auf, gegen die »islamistische Hydra« vorzugehen und bezifferte allein die Zahl der Terrorakte in Frankreich seit 2015 auf 59.
In Deutschland versuchen die Medien hingegen immer noch, mit zweierlei Maß zu messen: Wer Kind und Mutter vor den ICE wirft, wer mit der Machete auf offener Straße herumschlachtet, wer dem eigenen Nachwuchs auf dem Bahnsteig den Kopf abschneidet, wer junge Mädchen tötet, weil sie sich widersetzen, ist medial stets Einzeltäter, Beziehungstäter, verrückt oder alles zusammen. Man nennt die Stufen nie eine Treppe und weigert sich, den Blick auf die einzige Konstante hinter all diesen Taten zu sehen.
Auf der anderen Seite der Medaille werden Hetzjagden erst erfunden, wie in Chemnitz, um dann als willkommene Diffamierung ganzer Bundesländer, ihrer Bürger nebst legitimer Kritik gebraucht zu werden.
Das zu erwartende Demokratie-Förderungsgesetz wird sich diese geschickte Teilung des demokratischen Spektrums in »legitim« und »illegitim« zunutze machen und voraussichtlich den einen Teil der Gesellschaft weiter gegen den anderen mobilisieren.
Ein Gesetz jedoch, welches gewählte Teile des Parlaments aus welchen Gründen auch immer ermächtigt, sich über andere, ebenso gewählte Teile desselben Parlamentes zu erheben, erinnert an fatale Parallelen einer noch nicht allzu fernen und zudem oft erinnerten Geschichte. Das ist die eigentliche Farce!

Matthias Moosdorf

Matthias Moosdorf, geb. 1965 in Leipzig, Musiker u. a. im Leipziger Streichquartett, Konzerte in über 65 Ländern, mehr als 120 CD-Veröffentlichungen, 5 ECHO-Klassik-Preise, Texte und Bücher zur Musik u. a. bei Bärenreiter, 2008–2013 Gastprofessor an der Gedai-University of Arts, Tokyo, Gründung mehrerer Kammermusik-Festivals, Gesprächspartner zu Musik und Politik im Radio, seit 2016 auch Politikberatung und Publizistik, arbeitet für die AfD im Deutschen Bundestag

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